Sechstes Kapitel

 

Wiedemann war schlecht gelaunt. »Wenn die drei ersten Tage ergebnislos verlaufen, rennt die Mordkommission ins Leere. Heißt es.«

»Wir kriegen ihn«, beruhigte ihn Rodenstock. »Du hast bisher fast alle gekriegt.«

»Wenn es ein ›Er‹ ist«, wagte ich einzuschränken. »Mit einer Armbrust von derartiger Durchschlagskraft und mit einem solchen Gift, hätte das auch meine achtzigjährige Oma gekonnt.«

Es war wohl keine qualifizierte Äußerung, sie schwiegen.

Im Landratsamt wurden wir sehr diskret von einem jungen Mann empfangen, der flüsternd fragte: »Sind die Herren von der Behörde?« und, als Wiedemann nickte: »Dann darf ich Sie bitten, mir zu folgen.« Er brachte uns in ein Gelaß mit einem großen Tisch und acht Stühlen, in dem sich sonst nichts befand.

»Trostlos«, urteilte Wiedemann, »aber geschmackvoll.«

Der junge Mann zuckte leicht und wissend mit den Achseln. »Es soll ja gewissermaßen so sein, als wären Sie niemals hiergewesen.«

»So haben wir es gern«, nickte Wiedemann.

Nach zwei Minuten öffnete Hans-Jakob Udler die Tür, kam hinein und benahm sich alles in allem so, als wären wir angetreten, seine Befehle in Empfang zu nehmen. Er bewegte sich fast tänzerisch, war locker, sehr ausgeglichen. Er trug einen beigefarbenen Sommeranzug, der nicht ganz zum Regen paßte, aber immerhin verdächtig nach Rohseide aussah. Er breitete die Arme aus, als wollte er uns segnen, und sagte heiter: »Ich bin Ihnen für die Diskretion sehr dankbar. Udler ist mein Name.«

Als er mir dann die Hand gab, stutzte er: »Wir kennen uns. Aber das klärt sich.« Er setzte sich und versicherte: »Was immer Sie wollen: Von mir bekommen Sie jede Unterstützung, wie sich von selbst versteht. Wir können beginnen.«

Es war eine feste Absprache: Wiedemann sollte das Gespräch führen, Rodenstock und ich würden den Mund nicht aufmachen.

Also räusperte sich Wiedemann, und ich begriff, daß er unter allen Umständen Udler sofort in eine miese Position drängen wollte. Er sagte locker: »Zunächst einmal schöne Grüße von Natascha aus Aachen. Sie wissen schon, Gerbergasse, gleich neben dem Dom.«

Udler tätschelte leicht die goldene Plaget an seinem linken Handgelenk. »Sie müssen mich, mit wem auch immer, verwechseln. Natascha? Aachen? Ich bin, wie Sie sehen, nicht einmal erstaunt. Die Adresse kenne ich nicht.« Er sah uns der Reihe nach offen an, seine Augen waren harte, vollkommen ausdruckslose, flache blaugraue Kiesel.

»Wir haben das Video«, lächelte Wiedemann. »Das Ding ist amateurhaft, sechs Minuten lang. Es zeigt Sie, Herr Udler, nackt und auf allen Vieren. Sie werden geritten von der langmähnigen schönen Natascha, die eine Peitsche schwingt.« Klugerweise sagte er nicht, daß man Udler darauf nur identifizieren konnte, wenn man Udler kannte.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, Udler wurde tonlos. »Heißt das, daß ich das Gespräch abbrechen muß, um meinen Anwalt hinzuzuziehen?«

Zweifelsfrei eins zu null für Udler.

»Das können Sie halten wie Sie wollen.« Wiedemann steckte sich einen Stumpen etwas heftig ins Gesicht und rauchte ihn dann an.

Rodenstock hüstelte sofort.

Udler war clever, er antwortete nicht direkt, er suchte und fand einen hervorragenden Ausweg. »Also, daß Sie, meine Herren, von der Kripo sind, ist ja zweifellos klar. Aber der Herr Baumeister ist doch nicht von der Kripo und dazu noch Pressemensch. Warum nimmt er teil?«

»Er gehört keiner Redaktion an, er schreibt kein Wort und gibt auch kein Wort ohne Zustimmung heraus. Es spielt auch keine Rolle, welche Profession er hat. Er ist ein wichtiger Informant in dieser Sache, Mitarbeiter.«

Wiedemann spulte das herunter, als habe er das erwartet und sorgfältig erwogen.

Udler war klug genug, sich nicht darauf festzureiten. »Aha«, sagte er und nickte bedächtig.

»Die Aussage dieser Natascha geht dahin, daß Sie Stammgast sind«, murmelte Wiedemann. »Um eine Verwechslung handelt es sich nicht, und es macht auch keinen Sinn, wenn Sie jetzt empört sind und Ihren Anwalt verlangen. Sie sind hier nicht Beschuldigter, Sie sind möglicherweise ein Zeuge und Informant. Ich betone das Möglicherweise, denn bewiesen ist das noch nicht. Es kann sein, daß Ihr Wissen uns auch nicht weiterbringt.«

»Sie werden selbstverständlich nichts an die Öffentlichkeit weitergeben?« fragte Udler ganz sachlich.

»Selbstverständlich nicht«, bestätigte Wiedemann.

»Hm«, Udler trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand auf den Tisch. »Man sagt, Pierre und die Frau starben durch Gift. Was für ein Gift war es?«

»Das wissen wir noch nicht«, log Wiedemann gekonnt. »Aber zurück zu Natascha. Stimmen Sie dem Grundmuster zu, daß Sie hin und wieder dort zu Besuch sind?«

»Ich stimme zu«, ruckte Udler. »Sie sagten, auf diesem Video reitet sie mich?« Ein wenig ungläubig.

»Das sagte ich.«

»Der Alkohol, der Teufel«, murmelte er versonnen.

Zwei zu null für Hans-Jakob Udler.

»Was ist, wenn dieses Video in die Öffentlichkeit gerät?« fragte Wiedemann.

»Das wäre zweifellos peinlich«, antwortete Udler ohne jedes Zögern. »Aber nun wieder nicht so peinlich, daß es mich Kopf und Kragen kosten würde. Was, um Himmels willen, tut man nicht alles im Suff.« Er lächelte voller Charme. »Sehen Sie, meine Herren, wenn ich das einmal übertrieben formulieren darf: Unter diesen Umständen müßten nach jeder Karnevalsession in Köln die Vorstände jedes Vereins zurücktreten und geschlossen Selbstmord begehen.« Er zeigte die ganze Batterie schneeweißer dritter Zähne.

Drei zu null für Herrn Udler.

»Mit anderen Worten: Sie streiten nicht ab, daß ein solches Video existiert?«

Das war eine ungeschickte Frage, und Wiedemann begriff das sofort, konnte sie allerdings nicht ungeschehen machen.

»Wenn Sie es sagen, glaube ich es«, strahlte Udler. »Allerdings muß ich eines betonen: diese Natascha ist ein, nun sagen wir, eigentlich ehrliches Häschen. Sie hat mit keinem Wort erwähnt, daß irgendein Zuhälter – war es ein Zuhälter? – das fotografierte. Natürlich kann ich jetzt nicht mehr zu freudvoll albernen Stunden nach Aachen aufbrechen. Dort habe ich übrigens studiert.«

Vier zu null, fünf zu null, sechs zu null für Herrn Udler.

»Können Sie sich vorstellen, daß Pierre Kinn Sie mit diesem Film erpressen wollte?«

Udler beugte sich gespannt wie eine Feder weit über den Tisch. Er war offenkundig fassungslos, er lauschte Wiedemanns Worten nach und mochte sie nicht glauben, nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Er kniff die Augen zusammen, spitzte den Mund, schüttelte den Kopf. »Wie bitte? Der Pierre? Mich erpressen? Mit so einem Filmchen? Mit so einem Scheiß?« Er zog sich ein paar Zentimeter zurück, spannte sich dann wieder nach vorn.

»Nein, nein, nein, Herr Kommissar, überlegen Sie doch bitte einmal: Das wäre gänzlich hirnrissig. Sie äußern einen bösen Verdacht, und ich kann nur erwidern: Pierre hat mich nicht erpreßt. Ich wußte doch gar nicht, daß dieses blöde Material existiert. Und gleich noch etwas, damit wir uns klar verstehen: Pierre hätte nie und nimmer versucht, mich mit so einem, geradezu dämlichen Video zu erpressen. Mit so etwas kann man Udler nicht erpressen, und Pierre wäre niemals so dumm gewesen, das auch nur zu versuchen.« Udler entspannte sich etwas, atmete langsamer. Dann lächelte er wieder unvermittelt. »Wenn ich das richtig verstehe, besaß Pierre also dieses Filmchen. Wie lange denn schon?«

»Ein paar Wochen mindestens«, antwortete Wiedemann. Er wußte, daß seine Stellung schwach war, und gab es durch seinen Gesichtsausdruck zu.

»Gleich die nächste Frage, Herr Kommissar, und die Antwort interessiert mich nun wirklich: In welche Richtung, meinen Sie, konnte Pierre mich denn erpressen?«

»Daß er seinen Job bei der Bank behält«, erwiderte Wiedemann einfach.

»Den Job war er seit vielen Monaten los«, bellte Udler scharf. »Es ist unmöglich in der Eifel, einen jungen Mann mit der Belastung eines außerehelichen Verhältnisses weiter zu beschäftigen, das funktioniert einfach nicht. Pierre wußte das.«

»Wenn er es wußte, was wollte er denn unternehmen? Hatte er einen neuen Job?«

»Das weiß ich aufrichtig nicht.« Udler war jetzt schlecht gelaunt. »Wenn ich Ihre Gedanken nachvollziehe, hat also Pierre das Filmchen bei Natascha aufgetrieben und wollte mich damit erpressen, ihn weiter in der Bank zu beschäftigen. Das ist ein perfekter Holzweg. Pierre brauchte mich nicht zu erpressen, und ich bin nicht erpreßbar. Seien Sie doch nicht so eng, meine Herren. Ich bin ein Mann in den Fünfzigern. Ich bin mit einem lebenden Vaterunser verheiratet, und jeder im Landkreis weiß das. Wenn ich total betrunken gefilmt werde, dann ist das peinlich, aber ich würde kein Zweimarkstück dafür opfern, das zu verhindern. Unter uns kann ich durchaus zugeben, daß Natascha mir großen Spaß gemacht hat. Kein Problem.«

Sieben bis zwanzig zu null für Udler.

»Eine andere Frage. Sehen Sie ein irgendwie geartetes Motiv, Pierre Kinn und Heidelinde Kutschera zu töten?«

»Nein. Es ist mir scheißegal, ob Sie mir das glauben, oder nicht. Ich zerbreche mir den Kopf, weil ich den Jungen aufrichtig gern hatte. Ich finde keinen Grund. Die Leute hätten Schlange gestanden, ihn zu engagieren. Der Grund, weshalb Pierre trotz dieser unseligen Affäre so lustig blieb, ist doch genau in der Tatsache zu suchen, daß er jede Möglichkeit hatte weiterzukommen – in Banken genauso wie in der Privatwirtschaft. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich gedacht haben: Aha, der Kinn hat Udler erpreßt, und der griff mal kurz zur Armbrust. Ich bin um Ihretwillen froh, daß wir uns hier getroffen haben. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, meine Herren.«

»Tja, das war's«, Wiedemann klang süßlich.

Udler nickte, stand auf und verbeugte sich leicht. »Ich bin die nächsten Tage in Daun. Ich sage meiner Sekretärin, sie soll Sie sofort durchstellen, wenn Sie anrufen. Ich helfe Ihnen, jederzeit. Meine Herren.« Er senkte das Haupt wie ein kommandierender General, wir waren entlassen. Ausgesprochen beschwingt ging Udler hinaus.

»Falsche Fährte«, sagte Rodenstock bitter.

»Er hat einfach zuviel Macht«, meinte ich.

»Das Filmchen taugt nichts«, knurrte Wiedemann. »Wir haben nicht den Hauch eines Motivs.« Er erklärte, er wolle schnell zu seinen Leuten, um noch einmal den ganzen Fall zu besprechen.

Ich fuhr mit Rodenstock heim. Er sagte wütend, er wolle schlafen, aber er schlief nicht. Statt dessen zog er eine Bahn Packpapier im Gästezimmer quer über die Wand und schrieb energisch mit einem Filzstift: Motive! darauf. Dann warf er leicht angewidert den Stift auf den Tisch und beschloß: »Ich gehe wirklich schlafen.«

Dinah Marcus hatte einen Melissentee gekocht und badete ihre verquollene Wange darin. Ich berichtete von Udler, und mein Tonfall muß eindeutig resignativ gewesen sein, denn sie sagte leicht gönnerhaft: »Nur nicht aufgeben, Baumeister, du bist doch gar nicht so schlecht.«

Ach richtig, wir duzten uns. »Was hat denn der Kerl in deinem Bett gesagt?«

»Er schluchzte, ich mache ihn heimatlos.«

»Und? Ist er verschwunden?«

»Ja. Wenigstens vorläufig. Ich lasse ein neues Schloß einbauen. Was machst du jetzt?«

»Das, was ich immer tue, wenn anscheinend nichts weitergeht. Ich frage meine Katzen, ob sie mit mir Spazierengehen. Dann versuche ich nachzudenken.«

»Hast du ein Kopfschmerzmittel? Scheiße, ich sehe aus wie meine eigene Großmutter.«

»Im Schreibtisch findest du was. Bis gleich.«

Natürlich ging ich nicht spazieren. Ich fuhr nach Kelberg zum Kutschera. Ich wollte sehen, wie ein Mann aussieht, der seine Frau an einen anderen verlor und als Tote zurückbekam. Vielleicht konnte ich mit ihm sprechen.

Ich nahm den Weg über Kerpen, Niederehe und die Nebenstraße nach Brück. Es regnete sanft, die Landschaft ertrank in einem nebligen Naß. Ich versuchte es mit der Rod-Stewart-Aufnahme Unplugged und ersoff in Selbstmitleid, während er Waltzing Mathilda röhrte. Es ist mir unvorstellbar, daß Maria Callas das gleiche erreicht hätte.

In der scharfen Kehre vor Brück stand ein Rehbock auf der Fahrbahn und rührte sich zunächst nicht von der Stelle. Das ist keinesfalls verwunderlich, denn wenn schon wir Menschen in modernen Zeiten nur noch kopf- und hilflos herumrennen, wie soll es den Tieren des Waldes erst gehen, den wir versauern? Nach einer Weile, nach ausgiebiger Betrachtung meiner brennenden Scheinwerfer, entschloß sich der Bock zu ein paar matten Sätzen in den rettenden Dschungel.

Kutscheras Werkstatt lag im Hinterhof eines alten Bauernhauses, dicht an der Kreuzung der beiden Bundesstraßen. Es standen eine Menge Bretterstapel herum, aber nichts wies darauf hin, daß hier irgend jemand fröhlich seinem Handwerk nachging. Keine Maschine surrte, keine Lampe brannte, es wirkte trostlos.

Schließlich fand ich ihn, nachdem ich eine Tür geöffnet hatte. Es war ein großer langgestreckter heller Raum, in dessen Decke Glasscheiben eingelassen waren. Kutschera stand an einer Werkbank und tat nichts. Er stand da und starrte aus dem vollkommen staubbedeckten Fenster.

»Ich bin Baumeister«, sagte ich vorsichtig.

»Ich habe damit gerechnet«, nickte er. »Ich habe nicht mal einen Stuhl hier.«

»Das macht nichts. Darf ich Pfeife rauchen?«

»Sicher. Haben Sie Tabak dabei? Ich muß hier irgendwo eine alte Pfeife rumliegen haben.«

Er war ein sehr großer Mann, sicherlich größer als einen Meter achtzig. Er wirkte massiv und stark, hatte kurzgeschorene graue Haare und war der Inbegriff des Handwerkers, der sein Metier versteht und den wir Normalverbraucher als ewige Versicherung gegen alle Tücken des Alltags begreifen. Er hatte Hände wie kleine Bratpfannen, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß er damit eine Frau streichelte. Ich reichte ihm meinen Tabakbeutel, und er roch daran.

»Eigenmischung?«

»Ja. Wenn ich jetzt unpassend komme, sagen Sie es ruhig. Ich verschwinde dann wieder.«

»Und Sie kommen wieder«, grinste er matt. »Schon gut, ich weiß ja ungefähr, wer Sie sind. Schreiben Sie drüber?«

»Ich weiß es noch nicht. Zur Zeit, das kann ich versprechen, gibt es gar nichts zu schreiben. Ich weiß, die Tageszeitungen sind voll davon, aber wenn Sie genau hinsehen, steht eigentlich nichts drin.«

»Das stimmt«, nickte er. »Es steht wirklich nichts drin. Im Trierer Volksfreund steht allerdings, die Polizei hätte ein paar vielversprechende Hinweise.«

»Das ist nicht wahr, das ist Kokolores.«

Kutschera schwang sich schnell und leicht auf die Werkbank, ich hockte mich auf einen Stapel Türen. Er schmauchte vor sich hin und sagte: »Gut, der Tabak. Was wollen Sie wissen?«

»Ich weiß eigentlich nicht, was ich fragen soll. Ehrlich gestanden bin ich verwirrt. Wir haben komische Dinge entdeckt. Zum Beispiel in Kyllheim den Bau eines Bades, eines Hotels und dreißig Apartments, die von den eigenen Handwerkern gekauft werden mußten. Alle möglichen derartigen Dinge. Aber wir finden kein Motiv für irgendeinen Täter. Der Mord war so verdammt gut ausgedacht und perfekt.«

»Aber wer kommt so einfach an M 99?« fragte er nachdenklich.

»Woher wissen Sie das?«

»Das weiß doch die ganze Eifel. Die Kripo ist nur deswegen draufgekommen, weil der Pächter der Kasselburg in Pelm die darauf hingewiesen hat. Und der ist ein guter Freund von mir. Die Eifel kennt keine Geheimnisse. Ich weiß auch, daß sie anfangs dachten, ich sei es gewesen.« Er räusperte sich. »Ich habe denen ganz offen gesagt, daß ich es verdammt gut gewesen sein könnte. Aber ich war es nicht. Und schon gar nicht mit M 99.«

»Wie haben Sie das Spiel überhaupt durchgehalten?«

»Das weiß ich nicht«, meinte er dumpf. »Ich weiß nur, wie es ausgegangen ist.«

»Haben Sie denn nie versucht, mit Kinn zu reden?«

»Doch, habe ich. Vor einem Jahr. Ich habe ihm gesagt: Ich schlag dich tot, wenn du das nicht sein läßt! Er stand vor mir und sagte, das sei ihm egal, das müßte ich hinnehmen. Einfach so.«

»Sie haben nicht zugeschlagen?«

»Nein, habe ich nicht. Ich habe erst dann begriffen, wie ernst das zwischen denen war. Ich dachte zu Anfang, das wäre irgendeine Geschichte, wie sie mal vorkommt. Aber es war etwas anderes.«

»Was war es denn Ihrer Meinung nach?«

»Was völlig Verrücktes. Ich konnte nichts machen, die Kinder auch nicht.« Er sprach leise und schüttelte den Kopf.

»Wo sind die Kinder?«

»Bei der Oma. Ich wollte sie raushalten. Aber ich kann sie nicht raushalten, weil alle Leute versuchen, mit ihnen drüber zu reden. Das ist schlimm. Ich habe schon daran gedacht, nach der Beerdigung mit den Kindern nach Ibiza oder irgendwoanders hinzufahren. Jedenfalls weit weg.«

»Eine gute Idee«, sagte ich. »Auf Dauer sollten Sie sowieso besser weggehen.«

Er starrte mich an. »Das sagen Sie auch? Komisch, das sagen alle, und ich glaube, es ist wirklich besser. Aber ich bin Eifler, das wird schwer.«

»Kanada ist doch zum Beispiel sehr schön. Den Kindern würde es bestimmt gut tun, sie könnten vergessen. Hier in der Eifel wird man noch nach zwanzig Jahren über die Sache sprechen. Sie wissen das.«

»Ich denke das auch«, nickte er. »Was haben Sie denn rausgekriegt? Sie und die Polizei?«

»Eigentlich wenig. Wir haben niemanden gefunden, der einen wirklichen Grund hatte, beide zu töten. Können Sie sich in Ihren wildesten Phantasien jemanden vorstellen, der einen Grund gehabt hätte?«

»Vielleicht ein faules Geschäft in der Bank?« fragte er.

»Da sind einige Geschäfte, die etwas streng riechen. Aber ob die ein Grund sein könnten, ist zu bezweifeln.«

»Hat sie... ich meine, hat sie leiden müssen?«

Ich dachte daran, daß der Spurenexperte Wolf gesagt hatte, die beiden tödlich Getroffenen hätten wahrscheinlich irrsinnige Schmerzen durchstehen müssen. »Ich glaube nicht, ich glaube, es ging schnell.«

»Das muß doch einer wochenlang geplant haben«, wunderte er sich. »Du mußt erst mal eine Armbrust haben. Na gut, das kannst du erledigen, indem du eine kaufst. Dann mußt du M 99 besorgen, und das bekommst du nirgendwo, wenn du nicht Tierarzt bist. Vielleicht hatte der Mörder das auch schon? Aus irgendeinem Grund hatte er es, und er erinnerte sich daran. Dann mußt du wissen, daß die zwei auf dem Golfplatz sind, und du mußt wissen, wann sie ungefähr auf der Bahn sechzehn ankommen. Sonst stehst du dir die Beine in den Bauch.«

»Wahrscheinlich ist der Mörder ihnen gefolgt. Oder er wußte durch irgendeinen Zufall, daß sie am Sonntag abend auf dem Golfplatz sein würden.«

»Na, gut. Das leuchtet mir noch ein. Aber dann muß der Mörder doch eiskalt gewesen sein. Oder? Also müssen sie etwas gewußt haben, was den Mörder in Gefahr brachte. Anders ist das doch nicht zu erklären. Was ist mit diesem Charlie, diesem Multimillionär, der manchmal mit dem Kinn zusammenhockte?«

»Das scheint sehr unwahrscheinlich. Charlie hat viel Geld, und was anderes interessiert ihn nicht. Er wäre niemals so dumm, wegen Geldes einen Menschen umzubringen, oder gar zwei. Charlie war es nicht.«

»Sagen Sie«, murmelte Kutschera. »Aber es leuchtet schon ein. Wie sollte Pierre Kinn denn für den auch gefährlich sein? Und erst recht meine... also erst recht nicht die Heidelinde.«

»Es ist darüber nachgedacht worden, ob Ihre Frau vielleicht was wußte, was für jemanden gefährlich war. Ich meine, vielleicht ist Pierre Kinn nebenbei getötet worden und eigentlich sollte Ihre Frau getötet werden.«

»Warum denn das? Das ist doch völlig... also das ist doch Unsinn. Heidelinde war doch... na ja, sie war irgendwie abgedreht, aber sie war doch... sie war doch harmlos, ich meine...«

»Sie war nicht harmlos«, widersprach ich heftig. »Sie hatte eine Liebesgeschichte mit einem Mann, und die war so ernst, daß sie ihr Leben aufgeben wollte. Das Leben mit Ihnen und den Kindern. Man könnte jetzt sagen, daß wirkt irgendwie krank, aber vielleicht war das nicht krank, sondern normal. Nun wird diese Frau getötet, und ich will herausfinden, warum das passierte. Sie sagen, Ihre Frau war harmlos; ich sage, jemand hat sie getötet. Also, was wissen Sie von Ihrer Frau?«

»Was soll ich wissen? Ich weiß alles.« Er sprang von der Werkbank. »Na gut, eigentlich weiß ich nichts. Aber daß kein Mensch sie umzubringen braucht, das weiß ich nun wirklich.«

»Regen Sie sich nicht auf. Als das mit Pierre Kinn begann, wie lange hat sie versucht, das geheimzuhalten?«

»Eigentlich gar nicht«, sagte er tonlos. »Sie hat es überhaupt nicht geheimgehalten. Das fing so vor zwei Jahren an. Ziemlich harmlos. Das war bei den Planungen für dieses Bad und Luxushotel in Kyllheim. Eines Tages hatte sie gesagt, die Kinder wären jetzt groß genug, um tagsüber allein zu sein. Sie meinte, es wäre gut, wieder in den Beruf zu gehen. Sie ist Bürokauffrau. In diesem Hotel hatte sie die Chance, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, also Werbung und so. Ich sagte: Das ist Klasse, das soll sie machen. Sie war dann dreimal auf einer Fortbildung, sie büffelte wirklich wie verrückt. Sie war aber auch häufiger weg, und sie war so komisch. Ich habe sie gefragt, was ist los? Sie antwortete, sie hätte eine Geschichte mit dem Pierre Kinn, und ich müsse Geduld haben. Hah! Geduld haben. Ich hatte Geduld, ich habe gebetet, lieber Gott, laß es bald vorbei sein! Aber es ging nicht vorbei. Sie sagte, sie liebt ihn. Sie sagte, es sei ernst. Sie bot mir die Scheidung an, sie wollte nichts haben, nicht mal die Kinder. Ich sagte, ich warte. Ich weiß nicht, wie oft ich das gesagt habe. Tausendmal, schätze ich. Es gab Tage, da bin ich nach Feierabend in die nächste Wirtschaft eingefallen und habe mich solange mit Bier und Schnaps abgefüllt, bis ich nichts mehr spürte.«

»Was hat sie erzählt, was hatten sie und der Pierre denn vor?«

»Der Kinn hatte den Bankjob, sie sollte das Hotel managen. Das veränderte sich langsam. Ich weiß eben nicht, was sich veränderte. War ja klar, daß der Kinn unter diesen Umständen niemals bei der Bank bleiben konnte, ach, was sage ich, der konnte nicht mal in der Eifel bleiben.

Das habe ich auch meiner Frau gesagt. Einmal war ich betrunken, ich weiß auch, daß die Kinder zuhörten, aber ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen...« Er rieb sich die Augen, er weinte. »Ich habe sie angeschrien, ich habe gebrüllt: Du Arschloch, du kannst nicht mit diesem Wichser ficken und gleichzeitig hoffen, in der Eifel glücklich zu werden. Ich habe solange geschrien, bis unsere Nachbarn kamen und mich beruhigten. Das tut mir leid, aber ich wußte nicht mehr aus noch ein.« Er drehte sich leicht wie ein betrunkener Tanzbär und wischte sich mit einem dreckigen Tuch über die Augen. »Verdammt noch mal, nimmt das denn nie ein Ende?«

»Was hat sie geantwortet?«

»Sie sagte irgendwie... ja, wütend, oder mit Verachtung: Was weißt du denn schon. Die Eifel ist out, das Hotel ist längst nicht mehr wichtig. Wir haben was anderes vor. Das sagte sie.«

»Wann war das?«

»Vor drei oder vier Monaten.«

»Können Sie den Termin genauer angeben?«

»Kann ich nicht. Ich habe ein Hirn wie ein Badeschwamm. Mensch, Junge, ich kann nicht mehr.«

»Was sollte sich ändern?«

»Das erzählte sie nicht. Ich habe sie mehrmals gefragt, aber sie erzählte nichts. Ich weiß nur, ich dachte: Jetzt ist alles aus. Und es war aus.«

»Die ganze Zeit hat sie bei Ihnen gewohnt? Im Ehebett?«

»Nein, nein, da hatten wir eine Lösung gefunden. Sie ging abends rüber zu Freunden von uns und schlief dort allein. Oh Mann, ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll.«

»Damit kann kein Mensch gut klarkommen«, meinte ich. »Vielen Dank. Denken Sie ruhig mal an Kanada, die brauchen Handwerker.« Es tat körperlich weh, ihn dort im Dämmer seiner lautlosen Werkstatt stehen zu sehen und nichts für ihn tun zu können, außer Wortblasen abzusondern, die ihm überdies Schmerzen zufügten.

»Wenn Sie reden wollen, rufen Sie mich an. Tag und Nacht«, verabschiedete ich mich.

Es regnete noch immer, der Nebel hatte sich verfestigt und wirkte wie ein klatschnasses Tuch. Kutschera blieb einfach stehen, neigte den Kopf und weinte lautlos.

Ein wenig war es so, als läge tiefer Schnee. Der Nebel schluckte die Geräusche und ließ die Welt seltsam still und harmlos scheinen. Es war wohl einer der Abende, an denen man beginnt, nach sich selbst zu suchen. Ich nahm den gleichen Weg zurück.

Auf der Höhe über Brück mußte ich Schritt fahren und hätte beinahe eine schwere Zugmaschine von hinten erwischt, die den üblichen Fehler aller Landmaschinen hatte: Funzeln statt Rückleuchten. Jemand hatte sich hinter mich geklemmt, und es ging in gemächlichen 20 km/h in die Linkskurve vor der scharfen Kehre. Ich rechnete aus, daß ich bis zum Hof etwa fünfzehn Minuten brauchen würde, also war es noch möglich, Nina Simone mit ihrem rauchigen Don't smoke in bed einzuschieben. Als die Gute gerade loslegen wollte, blendete mein Hintermann auf und schoß mit einem mörderischen Satz an mir vorbei, setzte sich vor mich und stellte sich quer. Wir standen genau im inneren Scheitelpunkt der Rechtskehre. Es war ein Jeep Cherokee mit Hamburger Kennzeichen, er hatte das Warnblinklicht eingeschaltet.

Weil ich ein höflicher Mensch bin, stieg ich aus. Vermutlich war er einer der vielen tausend Städter, die während eines ausgedehnten Eifelnebels für immer verlorengehen. Ich sagte also fröhlich »Hallo«, um ihm deutlich zu machen, daß Rettung nahte.

»Guten Abend«, grüßte er höflich und drehte sich aus seinem Sitz heraus. »Sind Sie Siggi Baumeister?«

Ich bestätigte das und setzte hinzu: »Falls Sie Schwierigkeiten haben, können Sie sich hinter mir halten. Ich kann Sie führen.«

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete er. Er sprach keinerlei Dialekt. Er trug einen locker und weit fallenden grauen Pullover und Jeans. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte ein hageres, ernsthaftes Gesicht unter kurzem grauem Haar und sah etwas oberlehrerhaft auf mich herunter. »Ich habe einen Auftrag.«

»Moment«, sagte ich, »ich will der Simone erst mal den Hals abdrehen.« Ich ging zurück und schaltete das Radio aus.

Er stand dort, bewegte sich nicht und wirkte äußerst gelassen.

»Sie haben also einen Auftrag«, wiederholte ich. Ich wußte genau, daß der Mann ernstzunehmen war, ich fühlte mich hilflos.

»Ja«, nickte er. Er war einfach neugierig auf mich und sah mich an.

»Dann fahren wir zu mir nach Hause«, schlug ich mit trockenem Mund vor.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Sie ahnen doch sicher, daß das unnötig ist.«

Ich nickte, sprechen konnte ich nicht mehr.

Er sah sich um. »Hier kommt stundenlang niemand vorbei«, sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Sie sollen sehr gut sein in Ihrem Fach. Eigentlich mag ich es nicht, Profis auszuschalten.« Er hatte jetzt eine Waffe in der rechten Hand, irgend etwas tiefschwarz Bedrohliches, und es war klar, daß er schon viel zuviel gesagt hatte.

Ich weiß sehr gut, daß meine Reaktion lächerlich war, aber ich weiß auch, daß ich nur diese eine Chance hatte. Ich mußte irgend etwas sagen, irgend etwas ganz Normales, ich mußte eine oder zwei Sekunden schinden. »In diesem Fall müßten Sie aber eine ganze Mordkommission töten.«

Er bekam ganz kleine Augen vor Heiterkeit. »Ich richte mich nach meinem Auftragsbuch«, erwiderte er. Seine Sprache war glatt ohne jede Höhe und Tiefe.

»Wer hat denn etwas gegen mich?« fragte ich, nur um Zeit zu schinden.

»Das ist mir unbekannt«, erklärte er ernsthaft. »Sie können sich umdrehen.«

Rechts von mir war ein Fleck mit feinem Granitsplit, ungefähr zwei Meter breit. Dann kam eine scharfe Senke in einen schmalen Graben, dann eine Erdstufe, etwa fünfzig Zentimeter hoch, schließlich die Kieferndickung. Schon die zweite Reihe der Stämme war nicht mehr zu sehen.

»Ich dreh mich nicht um«, meinte ich. »Sie können mir ins Gesicht schießen.«

Ohne Zweifel war er erstaunt und machte eine schwache, abwehrende Bewegung mit der linken Hand. »Nicht doch«, sagte er leise.

Dann trat ich mit aller Gewalt zwischen seine Beine. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich das Knie benutzte oder den rechten Fuß hochbrachte. Ich weiß es einfach nicht. Er schrie gellend und kippte nach vorn.

Ich versuchte nicht, an seine Waffe heranzukommen. Ich drehte mich ab, sprang über den Graben und tauchte zwischen die Stämme, wobei ich mit der rechten Schulter scharf und schmerzhaft gegen einen Ast stieß.

Plötzlich schoß er. Es klang merkwürdig harmlos und hatte nichts gemein mit den bellenden Schüssen in Actionfilmen. Er erwischte mich im linken Oberschenkel. Es tat nicht weh, es war wie ein kurzer Schlag ohne Echo. Ich kniete, und Äste waren in meinem Gesicht. Er war jetzt unterhalb von mir und atmete sehr heftig. Ich legte mein Gewicht auf das linke Bein, drehte mich und trat in sein Gesicht. Irgend etwas schepperte unter ihm, er rutschte ein Stück weg. Er keuchte: »Nicht doch.«

Ich spüre, wie schwierig es ist, Gewalt zu beschreiben. Fast unmerklich schwindet mit jedem Wort die Realität einer solchen Begebenheit. Beinahe zwanghaft versuche ich, mir den besseren Part zuzuschieben, mir die Attitüden des Siegers zu geben. Es gab keinen Sieger, und ich hatte in dieser Nacht nur Angst, die zuweilen ins Kraut schießt und zur Panik wird.

Die Distanz zwischen uns betrug nicht mehr als zwei Meter, und ich wollte nichts so sehr wie den Schutz der Bäume. Aber in meinem Rücken war ein Stamm, und etwas stach schmerzhaft in meine linke Seite. Ich ließ mich nach vorn fallen und landete auf ihm. Ich spürte eine kalte Wut.

Es war obszön, weil mein Gesicht seinem sehr nahe war und weil ich seinen Atem roch. Ich sah, daß er die Augen geschlossen hielt und daß die Waffe zwischen seinen Beinen lag. Ich griff danach, und wahrscheinlich gehört es zu den festen Versatzstücken in den Funktionen unseres Gehirns, daß ich erwartete, er würde ebenfalls danach greifen. Er griff nicht danach, atmete scharf und stoßweise, und vor seinem Mund bildete sich eine Blase.

Ich hatte die Waffe, und ich schoß. Ich bin ganz sicher, daß ich nicht zielte. Ich bin auch ganz sicher, daß ich ihn nur zum Schweigen bringen wollte, niemals töten. Ich drückte einmal ab und versuchte dann panisch, von ihm herunterzukommen.

Sein Kopf klappte auf die Seite, er streckte die Beine aus wie ein Mann, der sehr müde ist. Er atmete nicht mehr.

Der erste Gedanke danach war absurd. Ich dachte: Vielleicht hat er sich falsch ausgedrückt, vielleicht war er harmlos, vielleicht war das ein Mißverständnis. Wir reden oft über Gewalt, aber wir sind vollkommen überfordert, wenn sie uns trifft.

Das erste, an das ich mich wieder klar erinnere, war die Tatsache, daß mir sturzartig schlecht wurde und ich mich übergab. Das tat weh, ich hatte kaum etwas im Magen, und es wollte nicht aufhören. Dann ging ich zu meinem Wagen und schaltete aus irgendeinem Grund die Blinkanlage aus. Das gleiche machte ich bei dem Jeep.

Plötzlich fiel mir die Waffe ein. Ich wußte nicht, wo sie war. Dann kam die Angst, daß er aufstehen und auf mich schießen würde. Ich wagte es sekundenlang nicht, zu ihm zu gehen. Als ich es riskierte, lag er unverändert und starrte mit sehr leeren Augen in den Himmel, der nicht zu sehen war. Die Waffe lag dicht neben seinem Gesicht, es bereitete mir Qual, sie zu nehmen und in die Tasche zu stecken.

Der Schmerz setzte ein. Er kam heftig und stoßweise und breitete sich in meiner linken Körperhälfte aus. Augenblicklich konnte ich kaum mehr gehen, hatte kein Gefühl mehr im linken Bein.

Ich humpelte zu meinem Auto und zog mich auf den Sitz. Der Mann hatte mich seitlich außen in den Oberschenkel getroffen, die Hose war vollkommen durchblutet. Ich nahm das Taschenmesser und schnitt den Stoff auf. Das Loch war sehr klein, die Kugel mußte in meinem Bein stecken.

»Hier kommt stundenlang niemand vorbei«, hatte er gesagt.

Ich legte meinen Kopf soweit wie möglich zurück und dachte fieberhaft, daß ich Hilfe holen mußte. Ich hatte Furcht, ich würde ohnmächtig werden, wenngleich mir diese Furcht sofort dumm vorkam, denn sie würde den Schmerz auslöschen. Dann kam so etwas wie ein schwarzes Tuch über mich.

Jemand rüttelte an meiner Schulter und rief laut: »Siggi! Siggi!«

Ich versuchte hochzukommen, aber es gelang nicht. Ich lag quer auf beiden Vordersitzen.

»Beruhige dich, nicht bewegen. Du hattest einen Unfall. Ich fahre und hole die Sanis.« Es war eine Männerstimme.

»Nix Unfall«, stammelte ich. »Er wollte mich töten. Der Tote da wollte mich töten.«

»Welcher Tote?« fragte die Stimme.

»Der Tote da«, sagte ich.

Die Geräusche von Schritten, Stille, wieder Schritte.

»Er hat mich ins Bein getroffen«, erklärte ich. »Bist du es, Tom?«

Merkwürdigerweise muhte eine Kuh.

»Ja«, sagte er. »Ich bin mit zwei Rindern unterwegs. Ist das eine Schußwunde in deinem Bein?«

»Ja. Hast du Aspirin bei dir oder sowas?«

»Habe ich nicht. Ich hole jetzt Hilfe.«

»Warte mal, warte mal. Nicht einfach Hilfe. Fahre zu mir nach Hause. Rodenstock heißt der Mann. Er muß sofort hierherkommen. Verdammt! Hast du wirklich kein Aspirin?«

Tom lachte leise, wie er dies immer zu tun pflegt, wenn jemand eine dumme Bemerkung macht. »Brauchst was anderes«, sagte er.

Schritte, dumpfes Trampeln der Tiere in dem Hänger, irgendwelche nicht zu identifizierenden Geräusche. Dann gab er Gas und verschwand. Ich war sehr müde.

Die Wunde schmerzte gleichmäßig scharf, und allmählich konnte ich die Augen öffnen und durch die Frontscheibe in den wabernden Nebel sehen. Ich drückte das Band mit Nina Simone ein, und sie tönte tröstlich in die Stille. Aus irgendeinem Grund mußte ich weinen, und es machte keinen Sinn, sich zu wehren.

Zuerst traf Tom mit Rodenstock und Dinah ein.

»Bleiben Sie liegen, bleiben Sie liegen«, sagte Rodenstock schnell. »Wo ist der Tote?«

»Rechts im Graben.«

»Du bist verrückt«, schluchzte Dinah. »Warum fährst du denn allein durch die Gegend?«

»Weil ich immer allein durch die Gegend fahre«, erwiderte ich.

»Ich kenne den Mann nicht«, meinte Rodenstock, »aber es ist eine Neun-Millimeter-Beretta, und ich würde sagen, das ist Profigerät. Wollte er Sie einwandfrei erschießen?«

»Wollte er. Wieso aus Hamburg?«

»Er ist nicht aus Hamburg«, sagte Rodenstock knapp. »Der Wagen ist ein Mietwagen von Avis, in Frankfurt ausgeliehen. Wiedemann kommt gleich, der Sani auch.«

»Du machst einen Scheiß«, meinte Tom, der Jungbauer, freundlich.

»Wir haben es nicht richtig ernstgenommen«, fluchte Rodenstock. »Verdammt noch mal, wir hätten wissen müssen, daß es ausufert.«

»Hätten wir nicht«, sagte ich. »Es ist doch ein Provinzskandal, nichts anderes.«

»Hast du arge Schmerzen?« fragte die totenbleiche Soziologin.

»Es geht. Ich friere.«

»Das ist normal«, sagte Rodenstock. »Übrigens, herzlichen Glückwunsch, das hast du fein gemacht. Wirklich gut.« Dann grinste er. »Wir sollten uns nach soviel Durcheinander endlich duzen, oder?«

»Das ist schön«, nickte ich und meinte es so. »Was sagt deine Erfahrung? Wie lange nageln die mich im Krankenhaus fest?«

»Ein paar Tage«, vermutete er. »Aber ich habe keine Erfahrung, ich bin nie ins Bein geschossen worden, ich war nie ein Held.«

Ein Zivilfahrzeug mit Blaulicht kam heran. Wiedemann stieg aus und schubste die anderen beiseite. Er beugte sich über mich: »Ist das wahr, wollte der Sie umlegen?«

»Das ist wahr.«

Er verschwand, und ich hörte, wie er hastig mit anderen Männern sprach und kurze Anweisungen erteilte.

Endlich erreichte auch der Notarzt mit irrem Geheul und quietschenden Reifen die Szene, hinter ihm folgte der Bus vom Roten Kreuz. Der Arzt war ein freundlicher junger Mann und sehr resolut. Er zerrte mich nach vorn, obwohl ich schrie wie am Spieß.

Er sagte: »Na, na, na, wer wird denn gleich.« Dann nahm er eine Lampe und leuchtete mein Bein ab. »Steckschuß«, rief er begeistert, als komme so etwas nur alle Schaltjahre vor. »Sie müssen sofort in den OP, junger Mann. Fühlen Sie sich gut?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sagte irgend etwas zu den Sanitätern, fuhrwerkte an meinem linken Arm herum und setzte mir eine intravenöse Spritze. Dabei murmelte er: »Wir werden jetzt ganz ruhig.« Ich wurde überhaupt nicht ruhig, ich schlief ein. Alle Ärzte lügen.

Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, der hagere Mann in Weiß wirkte beruhigend wie ein Uhu. Mit mildem, väterlichem Lächeln erklärte er: »Sehr sauberer Steckschuß, sehr sauberer Schußkanal, sozusagen hygienisch sauber, wie wir Hausfrauen es gern haben. Hier ist die Kugel, Herr Baumeister. Wie Sie sehen, ist sie kaum deformiert. Tatsächlich hat sie den Knochen nicht gestreift. Schmerzen?«

»Nein. Wann kann ich gehen?«

»Ich denke, in ein paar Tagen«, lächelte er. »Sie können dem Schöpfer danken, daß es so glimpflich verlaufen ist. Sagen Sie, wollte man Sie wirklich umbringen? Ich meine, einfach so?«

»Einfach so.« Auf meinem Nachttisch stand ein gewaltiger Blumenstrauß. Rosen in allen Farben. »Wer hat mich da beschenkt?«

Der Arzt grinste und wurde noch menschlicher. »Ein Haufen Leute hält mich von der Arbeit ab. Alle fünf Minuten ruft jemand an und fragt, ob es Ihnen auch gut geht. Also, von mir aus können Sie versuchen, sich hinzustellen. Wollen Sie?«

»Na sicher«, nickte ich. Dann schwang ich die Beine etwas zu heftig, und mir wurde schwarz vor Augen.

»Langsam, alter Mann«, mahnte der Arzt schadenfroh.

Später lag ich wieder im Bett und betrachtete verwundert den kleinen Bleiklumpen. Eine Schwester kam herein, gab mir eine Spritze und versicherte hoch und heilig, das mache mich nur ruhig. Aber ich schlief selbstverständlich sofort wieder ein. Krankenschwestern lügen auch.

Ich wachte auf, weil es klopfte.

Wiedemann kam herein. »Sie bereiten mir schlaflose Nächte. Ist das hier der Mann, der Sie töten wollte?«

Er reichte mir ein Foto, ich nahm es und warf einen Blick drauf. »Richtig, das ist er. Wer ist der Mann?«

»Erst einmal frage ich. Wie lange haben Sie ihn beobachten können, bevor es zu dem Treffen kam?«

»Etwa eine Minute. Sein Auto war im Nebel dicht hinter mir.«

»Haben Sie ihn jemals vorher bei einer anderen Gelegenheit gesehen?«

»Mit Sicherheit nicht.«

»Wieviel Sätze hat er ungefähr mit Ihnen gesprochen? Oder, anders formuliert: Ehe Sie ihm in die Eier traten, haben Sie sich mit ihm unterhalten?«

»Ja, zuerst hat er gefragt, ob ich Siggi Baumeister bin. Dann sagte er, er habe einen Auftrag. Eigentlich mache es ihm keine Freude, Profis kaltzustellen. Ich würde doch ahnen, wozu er gekommen sei. Schließlich sagte er einfach, ich solle mich umdrehen.«

»Das sagt er zu jedem Opfer«, nickte Wiedemann. »Arbeiten Sie augenblicklich an einem Thema in Verbindung mit organisierter Kriminalität?«

»Nein. Auf lange Sicht bereite ich ein Sachbuch über die Situation der deutschen Polizei vor. Da spielt organisierte Kriminalität eine Rolle, aber das ist nicht akut.«

»Arbeiten Sie sonst an einem Thema, das mit Verbrechen zu tun hat?«

»Nein, bis auf den Doppelmord nicht. Wer ist der Mann?«

»Er ist ein Killer, oder besser gesagt, ein Profikiller. Er heißt Claudio Medin, ist Deutsch-Italiener und hat wahrscheinlich mehr Blut an den Händen, als man sich vorstellen kann. Es ist sicher, daß er im Auftrag italienischer Mafiakreise in Frankfurt mindestens drei Kroaten getötet hat, die im Drogengeschäft tätig waren. Wahrscheinlich ist er auch der Mann, der im vorigen Jahr in Miami in Florida einen Kokskönig aus Cali abschoß. Im Februar hat er im Auftrag japanischer Triaden ein Ehepaar aus Sri Lanka getötet, das in den europäischen Heroinhandel investiert hatte. Mit Sicherheit ist er derjenige, der in Moskau im Mai den Chef eines Kuriersyndikats ausgeschaltet hat, das später von Schweizer Kreisen übernommen wurde. Medin hatte zwei Adressen in Frankfurt. Eine normale Wohnung sowie eine tote Wohnung, in der lediglich zwei Telefone mit Anrufbeantworter standen. Auf diese Telefone, die er alle halbe Jahre mit einer anderen Nummer versah, konnten Aufträge gesprochen werden. Akzeptierte er einen Auftrag, schickte er dem Auftraggeber eine Postkarte, auf der nichts stand. Nie hat er gefragt, aus welchem Grund er jemanden töten sollte, nie hat ihm jemals Vorschriften gemacht, wie er vorzugehen hatte. Er war einfach gut, und er war teuer. Er kassierte grundsätzlich hundert Prozent im voraus und bekam in der Regel zwanzigtausend Dollar pro Auftrag plus Spesen. Wem, lieber Siggi Baumeister, sind Sie zwanzigtausend Dollar wert?«

»Niemandem«, sagte ich hastig.

»Aber ein Irrtum ist ausgeschlossen«, mahnte er.

»Kann man den Auftrag feststellen?«

»Das konnte das BKA«, ruckte Wiedemann. »Auf dem Anrufbeantworter sind Reste von Sprache, der Apparat hat nicht gut gelöscht. Die Anweisung ist sehr kurz und besagt: Zu erledigen ist Siggi Baumeister. Dann folgt Ihre komplette Adresse.«

»Vielleicht hat unser Doppelmord eine ganz andere Dimension«, überlegte ich.

»So muß es sein.«

»Aber warum ausgerechnet ich? Warum nicht Sie und Rodenstock?«

»Gangster und Ganoven sind nicht logisch«, meinte er. »Ein bestimmter Aspekt in der Geschichte läßt mich vermuten, daß Sie sehr gefährdet sind, ich aber nur meine Pflicht tue. Das heißt, jemand fürchtet, daß dieser Fall in allen Einzelheiten öffentlich breitgetreten wird. Dafür können nur Sie in Betracht kommen, die Mordkommission oder die Staatsanwaltschaft nicht. Wir ermitteln, wir klagen an, aber wir haben keine Macht über Medien.«

»Medin verwirrte mich eigentlich mehr, als daß er mir Angst machte. Weiß das Bundeskriminalamt etwas darüber, wie er mit seinen Opfern umging?«

Wiedemann nickte. »Er war ein paarmal erfolglos, bedingt durch besondere Umstände. Abgesehen davon, daß man starke psychopathologische Akzente in seiner Akte betont, wird vor allem darauf hingewiesen, daß er einen enormen Drang hat, sich dem Opfer persönlich zu nähern. Er will das Gespräch, er will sich anscheinend unterhalten, ehe er tötet. Das wird so interpretiert, daß er dadurch für sich selbst feststellen will, daß er ein ganz normaler, intelligenter Mensch ist mit einer ganz normalen Aufgabe, die er leider bewältigen muß. Was er zu Ihnen sagte, entspricht dem Bild: Sie sind ein netter Kerl, Baumeister, und beruflich sicher ein Profi, aber nun sollten Sie sich umdrehen, damit ich Sie erschießen kann. Natürlich wollte er auch Macht und Gelassenheit demonstrieren.«

»Er war verrückt, aber ich hätte mich tatsächlich nicht gewundert, wenn er gesagt hätte, er wolle erst eine Weile plaudern.«

»Das war sein Tod.« Wiedemann nahm einen Stumpen aus der Tasche und steckte ihn dann unwillig zurück, als er begriff, wo er war. »Erzählen Sie mir von dem Gespräch mit dem Ehemann der Heidelinde Kutschera?«

Ich berichtete so genau wie möglich. Als ich an die Stelle kam, an der Heidelinde Kutschera ihrem Mann gesagt hatte, das Hotel sei out und die Eifel für die Zukunft nicht mehr so wichtig, wurde Wiedemann stutzig und unterbrach mich.

»Das hat er uns nicht erzählt.«

»Wahrscheinlich haben Sie nicht gezielt gefragt. Das muß vor drei oder vier Monaten gewesen sein.«

»Hotel out und Eifel unwichtig? Bei wem würden Sie ansetzen?«

»Charlie, am besten bei Charlie«, riet ich. »Aber der wird schwer auf zutreiben sein.«

»Nicht sehr«, lächelte Wiedemann. »Er hockt draußen auf dem Gang und will Ihnen Blumen bringen.«

»Wieso das? Schlechtes Gewissen?«

Er kniff die Augen zusammen. »Warum eigentlich nicht? Übrigens, wir haben etwas Interessantes herausgefunden. Erinnern Sie sich an die beiden Jugendlichen von der Jagdhütte? Der größere von beiden, der Schläger, hat sehr unbürokratisch einen Kredit von der Sparkasse bekommen. Ist das nicht komisch? Ohne Antrag.«

»Sehr komisch«, nickte ich. »Also rein mit Charlie.«

Mit dem gestöhnten Vorwurf: »Junge, was machst du denn für einen Scheiß!« kam Charlie hineingekullert, warf seine Blumen auf mein frisch operiertes Bein und knutschte mich nach rheinischer Sitte heftig ab. Er roch intensiv nach irgendeinem Bau de toilette, das er vermutlich literweise verbrauchte. »Na, Jung, du machst uns Kummer. Nun sag mal, wie war dat denn?«

»Kurz und fast schmerzlos, Charlie. Gut, dich zu sehen. Wie geht es Klunkerchen?«

»Die hat irgendwo in Köln eine Armenküche aufgemacht. Seitdem sehe ich sie nur noch mit Pennern.« Er grinste. »Sie macht sich gut zwischen denen. Besonders wenn sie im Nerz die Brillis mit denen spazierenführt. Nee, im Ernst, die muß was fürs Herz haben. Und du? Du solltest den Löffel abgeben?«

»Ich lebe noch einigermaßen. Charlie, Wiedemann und ich haben ein Problem. Du hast doch oft mit Pierre Kinn zusammengehockt. Vor drei Monaten spielten plötzlich für Pierres und Heidelindes Zukunft das Hotel und Bad in Kyllheim keine große Rolle mehr. Das hat Heidelinde zumindest ihrem Mann gesagt. Kannst du dir vorstellen, was da gewesen ist?«

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Vor drei Monaten sagst du? Was soll da gewesen sein?«

»Das ist die Frage«, murmelte Wiedemann. »Wir wissen, daß die Affäre der beiden gesellschaftlich tödlich war. Ursprünglich wollten sie trotzdem in der Eifel bleiben und sich hier durchsetzen, jeder an seinem Platz. An der Einstellung muß sich etwas geändert haben. Haben Sie ihm einen neuen oder anderen Job angeboten?«

»Ich? Ach, du lieber Gott, nein, sicher nicht. Ich kaufe Leute. Phasenweise. Sie erledigen was für mich, ich bezahle sie. Soweit so gut, aber niemals Angestellte. Nein, ich habe ihm nichts geboten.«

»Hast du ihm auch nichts vermittelt?« fragte ich.

»Nichts, ehrlich nicht, Junge. Ich vermittle auch nie. Wenn es dann Knatsch gibt, und den gibt es immer, fällt die Sache auf mich zurück, und es heißt: Charlie, wieso hast du mir nicht gesagt, daß der Typ faul ist?« Er grinste auf eindeutig dreckige, aber immerhin liebenswert Art. »Bei euch habe ich so den Eindruck, als ob ihr gar nicht wißt, was ihr eigentlich fragen sollt.«

Wiedemann starrte ihn mit großen Augen an und nickte. »Da ist was dran.«

»Eine Frage weiß ich aber noch«, sagte ich. »Du machst immer so den Eindruck, als ginge dich diese ganze schnöde Welt nichts an. Das ist ein schöner Trick. Aber ich traue dir im geschäftlichen Bereich fast jede legale Gaunerei zu, die man sich ausdenken kann. Die Frage lautet: Wenn du erfährst, daß jemand hingegangen ist und Pierre und Heidelinde umgebracht hat, was ist dein erster Gedanke?«

Er senkte den Kopf. »Ich denke sofort Bargeld.« Nun hob er den Kopf wieder und versuchte ein Lächeln. Es mißlang. »Ich denke immer Bargeld. Aber die Frage ist gemein, Baumeister. Meinen ersten Gedanken kann ich nicht verraten, denn Gedanken sind frei. Mein zweiter war die Frage: Wer kann so idiotisch gewesen sein, das zu tun? Ich sage dir, Baumeister, der, der das getan hat, der war ein Erste-Klasse-Dummkopf. Denn für eine ganze Menge Leute war der Pierre der beste Postbote, den sie je hatten.«

»Der beste Postbote?« fragte ich.

»Oh Gott«, stöhnte Wiedemann, »nicht auch das noch.«

»Kann mich jemand aufklären?« fragte ich jetzt aggressiv.

»Postbote heißt, Baumeisterchen, daß er Geld nach Luxemburg schaffte. Geld aus der Eifel nach Luxemburg. Das ist hier so eine Art Freitagsvergnügen. Alle Leute, die über zuviel Bargeld verfügen und nicht möchten, daß das Finanzamt es entdeckt, haben Konten in Luxemburg. Sie jammern in der Eifel, wie beschissen es ihnen geht, und erzählen nach dem siebten Bier ganz stolz, daß es ihnen schon wieder gelungen ist, fünfzigtausend rüberzuschaffen. Man schätzt, Baumeister, daß jeder fünfte Eifler Haushalt ein Konto jenseits der Westgrenzen hat. Und der gute Pierre hat daraus eine Dienstleistung gemacht. Er schaffte das Geld rüber, richtete die Konten ein. Er war für sehr viele, die heimlich in Luxemburg deponieren, der absolut beste und diskreteste Postbote, den sie haben konnten. Und noch was, meine Lieben: Pierre hatte das am besten bekannte Handy der Eifel. Denn, wenn die Leute wissen wollten, was sie mit dem Geld in Luxemburg am besten tun könnten, riefen sie Pierre an.«

»Warum haben wir das nicht entdeckt?« rief Wiedemann verblüfft. »Verdammt noch mal, wir haben sogar rekonstruiert, wann er zum letzten Mal Dünnschiß hatte. Verdammt noch mal!«

»Immer mit der Ruhe«, strahlte Charlie. »Wer sollte Ihnen denn ausgerechnet das sagen?«

»Hat er für dich auch Geld nach Luxemburg geschafft, Charlie?« bohrte ich weiter.

»Ein paar Mal, ja. Aber das ist jetzt vier oder fünf Jahre her. Ich habe ihn auf die Idee gebracht. Jetzt nicht mehr, Baumeister, jetzt nicht mehr.«

»Und wohin verschickst du dein Bares jetzt?«

»Keine Antwort«, meinte er zufrieden.

»Haben Sie eine Ahnung, wieviel Pierre in den letzten Jahren rübergebracht hat? Und gab es irgendwelchen Zoff dabei?« fragte Wiedemann.

»Bei Pierre gab es keinen Zoff«, winkte Charlie ab. »Er hatte sogar alleinige Kontenvollmacht in mindestens sechzig oder siebzig Fällen. Ich habe im Sommer mal überschlagen, daß er kontentechnisch gesehen über mindestens 30 Millionen verfügte. Vermutlich hat er mindestens 50 Millionen rübergebracht.«

»Brachte das viel Geld ein?« wollte ich wissen.

»Er hatte feste Sätze. Pro Konto war es relativ wenig. Alles in allem machte er durch die Masse aber pro Monat locker sechzehn bis siebzehn Riesen. Bar, netto, steuerfrei.«

»Heiliger Strohsack«, hauchte Wiedemann. »Sind das nicht ein Haufen Motive?«

»Wenn Sie mich fragen, ist das nicht ein lausiges Motiv«, meinte Charlie. »Warum soll ihn denn jemand umlegen, wenn alles gut läuft?«

»Könnte er jemanden über den Tisch gezogen haben, Charlie?«

Charlie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Das wäre Selbstmord gewesen, und so dumm war er nicht.«

»Aber angenommen, jemand hat in Luxemburg sehr viel Geld, das offiziell nicht existiert. Pierre war für ihn also gefährlich, also brachte er Pierre um.« Wiedemann wedelte mit den Händen, als wollte er ein Motiv herbeizaubern.

»Du lieber Gott, ihr strohdummen Laien«, seufzte Charlie angewidert. »Nahezu alles Geld, das nach Luxemburg wandert, ist rabenschwarz, lieber Kripomensch. Wollen Sie ein Beispiel über unkontrollierte Gelder in der Eifel? Also, ich gebe Ihnen ein praktisches Beispiel: Jemand hat vier oder fünf gute Ferien-Apartments irgendwo am Nürburgring. Offiziell wirbt er um Touristen und macht ihnen per Anzeige verbilligte Sonderangebote. Inoffiziell vermietet er alle Apartments für das Zehnfache des üblichen an die Rennfreaks und Autonarren, die jeden Preis bezahlen, um bei jedem Rennen dabei zu sein. Diese Frau oder dieser Mann macht durch Verkauf von Bier, Wein und Sekt, Schokolade, Frühstück und Mittagessen ein Schweinegeld. Er kann pro Jahr locker hunderttausend Mark schwarz machen. Für den ergibt sich die Frage: Wohin mit dem Zeug? Läßt er es auf der Sparkasse, kann das bei Kontrollen unangenehm werden. Also schafft er es weg. Er ruft Pierre an. Hören Sie auf, daß Pierre für irgendwen gefährlich war. Wenn, dann war er für alle gefährlich.«

»Wußte Udler das?« fragte ich.

»Ganz unwahrscheinlich«, sagte Charlie. »Na, sicher wird er es gewußt haben, aber er wußte es bestimmt nicht offiziell, und er würde es nicht einmal kommentieren. Außerdem, meine Herren: Pierre war im Außendienst. Diese Leute sind hochspezialisiert, und niemand spioniert ihnen nach. Sie können praktisch tun und lassen, was sie wollen. Ob Pierre Mittwochmorgen kurz nach Luxemburg fuhr oder am Samstagmorgen: Wer soll das kontrollieren? Hauptsache, es funktionierte; und es funktionierte. Ganz nebenbei: Pierre hat auch für den Ehemann seiner Geliebten Geld nach Luxemburg geschafft. Das weiß ich durch Zufall.«

Wiedemann und ich dachten darüber nach. Der Kriminalist sah so aus, als habe er in eine rohe Kartoffel gebissen.

»Charlie, ich habe einen Verdacht«, formulierte ich langsam. »Bist du beleidigt, wenn ich ihn laut werden lasse?«

»Ich bin selten beleidigt, und wenn, merkst du es nicht.«

»Du hast doch deine Millionen aus dem Bau in Kyllheim abgezogen, nicht wahr? Obwohl alle Beteiligten sagen, das sei ein ganz sicheres Geschäft für alle Anleger. Glaubst du das eigentlich auch?«

»Na ja«, antwortete er mit einer wegwerfenden Geste. »Ich hatte ein Objekt im Auge, das entschieden besser ist und mehr Profit abwirft.«

»Kann es denn nicht sein, daß du gar nichts mehr mit dem Projekt zu tun haben wolltest?«

»Moment, Moment«, wurde er hastig. »Ich habe mein Geld rausgezogen, bevor der Mord geschah.«

»Ja, ja, das weiß ich. Aber hast du es rausgezogen, weil du geahnt hast, daß alle Gelder, die drinstecken, genau geprüft werden? Irgend etwas in der Art, Charlie?«

»Irgend etwas in der Art«, nickte er.

»Es war schwarzes Geld, nicht wahr?«

Charlie schloß die Augen, dann sah er Wiedemann eindringlich an, und als der bedächtig nickte und versicherte: »Ich höre gar nicht zu«, murmelte Charlie: »Also, sagen wir mal so: ich hätte Schwierigkeiten gehabt, die Herkunft der Gelder offenzulegen. Zu kompliziert, verstehst du?«

Mein Bein begann zu schmerzen, ich drückte auf die Klingel. Eine Schwester kam herein, ich bat sie, mir etwas zu geben. »Aber nicht so einen Hammer, daß ich wieder vierundzwanzig Stunden schlafe.«

»Die Herren sollten sowieso gehen«, knurrte die Schwester muffig.

»Die Herren gehen schon«, nickte Wiedemann. »Draußen wartet Weibliches.«

Charlie und Wiedemann gingen, ich bekam eine bitter schmeckende Pille, und Dinah kam herein. »Du bist ja ein internationales Ziel geworden.« Sie berührte mich nicht, sie war verlegen.

»Ich bin eben wer«, frotzelte ich.

»Im Ernst, steigst du jetzt aus?«

»Nicht die Spur. Es wird doch jetzt erst heiter.«

»Aber vielleicht schaffst du den nächsten nicht mehr«, sagte sie atemlos. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund: »Tut mir leid, das wollte ich nicht. Ist das... ist das ein schlimmes Gefühl?«

»Ja.«

»Vielleicht willst du reden?«

»Will ich nicht. Wie geht es Rodenstock?«

»Er ist zu Hause und martert sein Hirn. Er sagt dauernd: Wir müssen etwas übersehen haben.«

»Haben wir wahrscheinlich auch.«

»Sind Mordfälle immer so kompliziert?«

»Meistens«.

»Du bist wortkarg.«

»Wahrscheinlich.«

»Tut mir leid. Ach, Baumeister, ich habe mir einfach Sorgen gemacht.«

»Wieso das? Wir sind doch nicht verheiratet«, entgegnete ich muffig.

»Das war eine Scheißbemerkung«, schloß sie und begann zu weinen.

»Tut mir leid. Aber eigentlich weiß ich doch gar nicht, wer du bist.«

»Das könnte man ja ändern«, schniefte Dinah. »Irgendwer hat gesagt, du bist ein Angstbeißer.«

»Ich?«

»Ja, du. Aber vergiß es, ist ja auch egal. Also, ich bin, na ja, ich bin jemand, der ewig gesucht hat, wo er zu Hause sein kann. Sonst ist da wenig. Ein paar Männer, ein paar Wohnungen. – Das mit dem toten Killer macht dich fertig, nicht wahr?«

»Ziemlich. Ich war panisch, verstehst du? Ich begreife nicht, warum ich geschossen habe. Ich begreife das wirklich nicht.«

»Aber er wollte dich erschießen, Baumeister.«

»Ja, ja, schon. Ich habe ihm in die Eier getreten, und ich muß ihn voll getroffen haben, denn er lag da und hatte die Waffe nicht mehr in der Hand. Ich hätte sie nehmen können und sagen können, was man dann sagt. Hände hoch oder irgend so einen Blödsinn.«

»Aber er hatte doch noch die Messer«, sagte sie.

»Was meinst du?«

»Er hatte Messer. Er hatte ein Messer an jeder Seite. Er hätte dich... er hätte dich trotzdem getötet.«

»Hat man die gefunden? Das wußte ich nicht. Aber das macht nichts. Er muß benommen gewesen sein, die Waffe lag einfach rum.«

»Vielleicht wollte er, daß du sie nimmst, vielleicht wollte er das, um dich schneller in die Hand zu bekommen.«

»Warum sagst du das? Ich habe sie genommen und geschossen.«

»Was solltest du sonst tun?«

»Ihn bedrohen. Er war doch gar nicht bei sich. Er war bewußtlos.«

Sie war verwirrt. »Selbst wenn er... also, er wollte dich töten. Und er hätte dich getötet. Er hat doch das Geld dafür schon gehabt, Baumeister, bist du nicht ein bißchen zu edel?«

»Edel? Ach, Scheiße! Er konnte nichts machen, verstehst du? Er war ohnmächtig und ich angeschossen.«

Sie schüttelte sanft den Kopf, nahm meine Hand, sah mich an und lächelte, wie Frauen eben lächeln, wenn sie etwas besser wissen. Ich konnte mich gar nicht wehren, ich mußte heulen, und es dauerte sehr lange. Ich wollte nicht, daß sie es sah, vergrub mein Gesicht in den elend großen Kissen und atmete nichts als Krankenhaus ein.

Irgendwann sagte Dinah leise: »Da kommen zwei vom Bundeskriminalamt. Sie sind angereist wegen dieses Killers. Du mußt eine Aussage machen.«

»Sag dem Rodenstock, er soll auf dich aufpassen.«

Sie errötete, sie errötete richtig. »Das tut der sowieso schon. Bevor ich fuhr, mahnte er, ich soll langsam fahren und aufmerksam sein, und wenn mir was auffällt, einfach vors nächste Haus fahren und schellen und all so einen Blödsinn.«

»Dann tu das wirklich«, sagte ich. »Es ist doch Tag, oder?«

»Es ist acht Uhr abends, du bist schon die vierte Nacht hier. Die haben dich mit Spritzen im Dauerschlaf gehalten. Willst du irgendwas zu lesen oder was Besonderes zu essen? Weintrauben oder so? Wenn ich in ein Krankenhaus muß, nehme ich immer Weintrauben mit. Aber ich habe nicht viel Übung.«

»Ich will nichts, nur aufstehen und abhauen.«

»Erst morgen die BKA-Leute«, sagte Dinah jetzt energisch. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

 

 

Siebtes Kapitel

 

Die beiden Beamten des Bundeskriminalamtes erwiesen sich am nächsten Morgen als aufdringlich freundliche junge Männer, die nichts weiter vorhatten, als mich etwa achtmal genau erzählen zu lassen, was geschehen war. Der Jüngere von beiden fluchte wie ein Rohrspatz auf seinen Computerlieferanten, der ihm eindeutig den falschen Laptop geliefert habe. »Ein Scheißding, das bei jedem Furz abstürzt.«

Sie mußten das Protokoll dann tatsächlich handschriftlich aufsetzen, eine ungeheuerliche Arroganz der Realitäten.

Dann bereitete ich meinen Abflug vor, indem ich mich aus dem Bett bewegte und anzog. Brav auf einem Stuhl hockend, erwartete ich den Chefarzt, der mich nach dem Mittagessen mit endlosen väterlichen Ermahnungen entließ. Ich nahm ein Taxi.

Rodenstock hatte das Packpapier an der freien Wand des Gästezimmers total mit Filzschreiber bedeckt. Es gab so seltsame Kürzel wie h. k. M. und l.k. A. v., was ›hat kein Motiv‹ und ›liegt keine Aussage vor‹ hieß. Hinter Udler stand l. w., und Rodenstock erläuterte: »Das heißt, er lügt wahrscheinlich. Wie geht es dir, mein Sohn?«

»Gut. Ich möchte Spaghetti Carbonara. Haben wir sowas?«

Dinah nickte. »Aber besser wäre wahrscheinlich ein Steak. Ich habe den Eisschrank vollgekauft. Aber ich kann doch nicht kochen. Ich habe eben statt Wasser Kaffeepulver in die Espressomaschine geschüttet.«

»Du bist einfach mordgeschädigt«, urteilte Rodenstock sanft. »Ich werde kochen.«

»Du bist meine Rettung«, antwortete sie ernsthaft.

Ich legte mich eine Weile auf mein Bett. Momo und Paul kamen und beklagten sich bitter, daß ich sie so lange alleingelassen hatte. Paul wühlte sich mit sehr hartnäckigen Kopfstößen in meine rechte Achselhöhle, schnurrte eine kurze Weile und war dann eingeschlafen. Momo zupfte an seinem Schwanz, um ihn zu stören, entschied sich aber dann für das Kopfkissen und legte den Kopf dicht neben meinen. Ihre Welt war in Ordnung.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Wir schliefen ein und wurden von Rodenstocks Gebrüll geweckt: »Die Steaks sind zu Braunkohle verarbeitet, die Raubtierfütterung kann beginnen!«

Die ersten zehn Minuten des Essens verliefen schweigend, dann sagte Rodenstock: »Ich würde gern mit einem Menschen sprechen, der in Geld ertrinkt und der mir dieses Durcheinander hier einigermaßen erklären kann.«

»Walburga«, schlug ich vor. »Sie ist eine englische Lady, die es nur zufällig in die Eifel verschlagen hat.«

»Kann sie kommen?«

»Walburga kann nie kommen, zu Walburga muß man pilgern. Ich rufe sie an. Falls sie noch nicht in Chamonix ist.«

Ich rief sie an, und sie zeigte sich gnädig. »Ich muß zwar ein Bridgeturnier vorbereiten, aber zwanzig Minuten habe ich für euch.«

Regen und Nebel beherrschten noch immer das Land und lagen wie ein festes Tuch unverrückbar in einer bestimmten Höhenlage. Als wir auf der Höhe über Dollendorf unter einen klaren Himmel fuhren, sagte Rodenstock: »Das ist schön, das ist wie im Flieger.«

Walburgas Ephebe war nicht da, wahrscheinlich hockte er in der Sauna und pflegte seinen Körper. Sie öffnete uns selbst, was ganz ungewöhnlich war, und sie begrüßte Rodenstock und Dinah mit großer Freundlichkeit. »Kommt herein, die ihr mühselig und beladen seid. Um was geht es? Hat Charlie wieder ein krummes Ding gedreht?«

»Es geht immer noch um den Doppelmord«, erklärte ich.

Wir durften in den Blauen Salon, der deshalb so hieß, weil von Wand zu Wand ein blauer Seidenteppich lag, auf dem wir wie auf Eiern gingen.

»Keine Rücksicht«, dröhnte Walburga. »Das Ding ist besser als ein Fußabtreter.«

Wir hockten uns auf Louis-Quattorze-Stühlchen und tranken Tee aus Fingerhüten, die eigentlich zu kostbar zum Anfassen waren.

»Ich habe ein Problem«, erklärte Rodenstock. »Ich habe eine Mordkommission mehr als zehn Jahre geleitet. Ich würde also sagen, ich verfüge über eine reichhaltige Erfahrung. Dieser Fall allerdings macht mir Kummer, weil – abgesehen von dem Ehepartner der Ermordeten – uns kein Mensch begegnet, der einen wirklichen Grund gehabt hätte, diese Menschen zu töten. Wir suchen verzweifelt ein Geheimnis, wobei wir nicht einmal wissen, ob es überhaupt ein Geheimnis gibt. Wir haben ein absolutes Finanzchaos um das Bade- und Hotelprojekt in Kyllheim, aber wir wissen nicht genau, ob es sich überhaupt um ein Finanzchaos handelt. Vielleicht ist auch das normal. Ich habe also, wenn Sie gestatten, eine Bitte: Können Sie mir die Ereignisse erklären?«

Walburga griff von einem Teewagen eine Ebenholzkiste, öffnete sie und nahm eine Aluminiumröhre heraus. Die wurde aufgeschraubt, zum Vorschein kam eine Zigarre in einer Folie. Sie entfernte die Folie und sah Rodenstock an.

Rodenstock blinzelte verträumt, und sie reichte ihm die Zigarre mit den Worten: »Schöne Grüße von Davidoff!«

Dann machte sie sich eine zweite zurecht. Als die Zigarre zu ihrer Zufriedenheit gleichmäßig brannte, räusperte sich Walburga, hielt die leicht qualmende Zigarre vor sich und betrachtete nachdenklich den Rauch. »Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Kriminalkommissar – oder sind Sie mehr?« Sie sah ein bißchen aus wie Marlene Dietrich als Pokerspielerin auf dem Mississipi.

»Entschieden mehr«, grinste Rodenstock. »Kriminaloberrat.«

»Hm. Wenn ich Sie also recht verstehe, dann wollen Sie von mir eigentlich nicht den Namen eines Verdächtigen, den ich sowieso nicht habe, sondern vielmehr meine Einschätzung der Lage?«

»So ist es«, nickte Rodenstock.

»Also ist Gehirn gefragt und keine Plapperei.« Sie schmunzelte. »Im Sinne meiner Schwestern möchte ich mich bedanken, daß Sie Gehirn voraussetzen. Kommen wir zunächst zu dem, was Sie verwirrt. Das, was Sie wahrscheinlich verwirrt, ist die Tatsache, daß Pierre Kinn Gelder in Luxemburg plazierte. Nun, das ist üblich, und wie viele der Gelder schwarz sind, kann ich Ihnen nicht sagen. Beide Felder geben für mich keinen Mörder her, weder Kyllheim noch Luxemburg.«

»Aber wer kann dann ein Interesse daran haben, Siggi Baumeister für zwanzigtausend Dollar töten zu lassen?« fragte Rodenstock.

»Das frage ich mich auch«, nickte sie. »Es muß etwas sein, was wir nicht wissen oder ständig übersehen. Ist es richtig, daß Udler irgendwas mit einem Nuttchen in Aachen hatte?«

Ich nickte. »Aber das beeindruckt ihn nicht. Er sagt, er sei mit einem lebenden Vaterunser verheiratet und das sei nur begrenzt zu ertragen.«

»Schreckliche Frau«, bestätigte Walburga.

»Da gibt es noch einen Punkt. Pierre und Heidelinde haben etwa vor drei oder vier Monaten ihre Meinung geändert. Heidelinde sagte zu ihrem Mann, der Hotelkomplex in Kyllheim und ihr Job dort seien, ebenso wie die Eifel, nicht mehr so wichtig. Wissen Sie etwas davon?«

»Nein.« Sie wirkte ehrlich. »Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Moment noch«, sagte ich. »Haben Sie etwas von dem Verdacht gehört, daß das Bad und das Hotel sich nicht in die Gewinnzone retten können, weil sie viel zu teuer sein müssen?«

»Natürlich. Kann sein, kann nicht sein. Die privaten Finanziers machen alle ihren Schnitt. Eng wird es bei den Subventionsmitteln. Möglich, daß die verlorengehen. Aber irgendwie geht so was immer weiter.«

»Was ist, wenn das Ding vor der Öffnung pleite macht?«

»Nichts. Dann wird es von irgendeiner anderen Gruppe übernommen, die sich einen Gewinn verspricht.«

»Kann es sein«, fragte Rodenstock, »daß Pierre Kinn bei anderen Banken Neider hatte, die ihn ausgeschaltet haben?«

Walburga lächelte boshaft. »Bei Männern, die im Management stecken, kann alles sein.«

»Aber Sie glauben nicht daran?« erkundigte ich mich.

»Ich würde sie ausschalten«, nickte sie. »Sehen Sie mal, Baumeister, wenn Manager sich beim Mobbing kaputtmachen, dann geschieht das selten auf eine wirklich intelligente Weise. Ich weiß das, ich habe Firmen in Deutschland und im Ausland. Der Doppelmord auf dem Golfplatz ist derart raffiniert in Szene gesetzt, daß das erhebliche kriminelle Energie verrät und außerdem ein Gehirn von Format. Sagen Sie, Herr Kriminaloberrat, denken Sie das nicht auch?«

»Das verwirrt mich gerade an diesem Fall«, bestätigte Rodenstock. »Der Mord selbst stinkt geradezu vor Perfektion.«

»Der Ehemann der Kutschera ist mit Sicherheit auszuschließen?«

»Mit Sicherheit«, bestätigte ich.

»Dann bleibt das ein Rätsel«, meinte Walburga.

»Hat Pierre Kinn eigentlich auch in Ihrem Auftrag schwarze Gelder transportiert?«

Sie ließ den Kopf ein wenig nach vorn fallen, zog an der Zigarre, sah dem Rauch nach. »Ja, einmal. Das war so eine komische Sache, die ich einem Wirtschaftsermittler der Staatsanwaltschaft Trier erklären mußte, weil sie eigentlich nicht begreifbar war.« Sie lachte, und weil es ihr zu laut erschien, hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Es ist zehn Jahre her, daß ich einem lieben Freund mal eine Menge Geld geliehen habe. Ich hatte es, er brauchte es. Er konnte es mir jahrelang nicht zurückgeben, dann kam es nach neun Jahren mit Zins und Zinseszinsen zurück. Ich hatte es in den Bilanzen getilgt. Wie sollte ich jetzt erklären, daß ich plötzlich um ein paar Hunderttausende reicher war? Ich konnte es eigentlich nicht. Da sagte ich zu Pierre: Nimm's mit, zahl es auf eines der Konten in Luxemburg ein. Ich weiß nicht wie, aber irgendein Wirtschaftsamt erhielt Kenntnis von dieser Rückzahlung, und ich war dran.« Sie seufzte. »Sonst ist nichts mit Schwarzgeld, Baumeister.«

»Wir kommen nicht weiter«, stöhnte Rodenstock in fast komischer Verzweiflung.

»Muß denn der Doppelmord überhaupt irgend etwas mit diesem Kyllheim zu tun haben?« sagte Dinah.

»Muß es wirklich nicht«, sagte Rodenstock. »Aber wir haben keine andere Spur.«

Walburga richtete sich auf ihrem Stühlchen ein wenig auf und wirkte wie eine Dorfschullehrerin aus dem vorigen Jahrhundert. »Ich hätte Sie nicht empfangen, wenn ich Ihnen nicht doch eine neue Idee mitgeben könnte. Man sollte ineffiziente Treffen tunlichst vermeiden. Das, was die junge Dame sagte, scheint mir wichtig und unter Umständen vollkommen richtig. Haben Sie einmal überlegt, daß Baumeister für etwas getötet werden sollte, was mit dem Mord an Pierre und Heidelinde nicht das geringste zu tun hat? Daß die beiden ermordet worden sind, weil etwas vorlag oder stattgefunden hat, was mit dem Projekt Kyllheim nicht das geringste zu tun hat? Und daß der Tötungsversuch Baumeisters mit dem Doppelmord nicht das geringste zu tun haben muß? Wohl aber mit dem Projekt in Kyllheim?«

»Also drei getrennte Felder«, sagte Rodenstock in die Stille.

Walburga nickte. »Es kann doch sein, daß irgend etwas mit dem Kyllheim-Projekt nicht stimmt und daß verhindert werden soll, daß Baumeister das aufdeckt. Also versucht man, ihn zu töten. Und daß Kinn und Kutschera getötet wurden, wobei das Motiv absolut nicht in Kyllheim zu suchen ist.«

»Was Genaueres haben Sie nicht?« fragte Rodenstock.

»Nur noch eine zusätzliche Überlegung«, erklärte sie. »Die Eifel ist ein wertekonservativer Landstrich. Leider blüht das Bigotte. Es könnte doch sein, daß Pierre Kinn und Heidelinde Kutschera sich gegen Heiligtümer vergangen haben? Beide brachen sie ihre Ehe, beide vernachlässigten sie zwangsläufig ihre Kinder, beide betrogen ihre Ehepartner und verließen sie. Es kann doch jemand hingegangen sein und den Richter gespielt haben! Ten little niggers – ich erinnere Sie. Dann paßt auch die raffinierte Art des Mordes. Jemand, der für sich in Anspruch nimmt, die öffentliche Moral zu verkörpern, kann sich Zeit lassen, gut planen und grausam und effizient töten.«

»Was glauben Sie, wie viele solcher Täter in Frage kommen?« fragte Rodenstock.

»Ich weiß es nicht. Mir fallen dazu einige Namen ein. Aber nennen werde ich keinen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber meine Verpflichtungen warten.«

Wir verabschiedeten uns also, hockten mißmutig im Auto und trieben durch den Nebel heimwärts.

»Was ist mit einem Verrückten?« schlug Dinah vor, als wir es uns wieder in meinem Haus gemütlich gemacht hatten.

»Die sind hier doch alle mehr oder weniger verrückt«, antwortete ich. »Das Gefährliche ist eben, daß diese Verrücktheit normalerweise nicht zutage tritt.«

»Man kann sagen, daß Kinns Leben ein Dienstleistungsleben war. Hätte er einen Kunden in großer Manier betrogen, wüßten wir das längst. Was ist aber, wenn er zufällig von irgendeiner drohenden Finanzaktion erfahren hat, irgendeiner geplanten Übernahme, von der eigentlich niemand etwas wissen sollte?« Rodenstock seufzte theatralisch und gab sich selbst die Antwort. »Dann suchen wir in Jahren noch.«

»War er eigentlich käuflich?« warf Dinah ein.

»Er brauchte nicht käuflich zu sein, er verdiente genug«, entgegnete ich mürrisch.

»Du spinnst«, sagte sie einfach. »Wenn die Summe hoch genug ist, wird jeder käuflich.«

»Aber wozu, meinst du, sollte er gekauft werden?« fragte ich.

»Das weiß ich doch nicht«, entgegnete sie ärgerlich. »Vielleicht wollte eine andere Bank das Geschäft in Kyllheim machen?«

»Sparkassen sind halb-öffentlich. Deshalb übernehmen sie bei diesen Projekten, die öffentlich gefördert werden, auch die Leitposition. Da können andere Banken gar nicht konkurrieren, oder zumindest nur begrenzt. Nein, nein!« Rodenstock fuchtelte mit beiden Armen in der Luft. »Wir sind in einer Sackgasse. Der Zustand der Eifler Gesellschaft ist nicht gerade geeignet, Klarheiten herzustellen. Verschwägert und versippt sind nicht einmal Parteien klar voneinander zu unterscheiden. Ein Kompromiß bedeutet hier durchaus, daß der SPD-Bürgermeister ein Grundstück vom CDU-Oppositionsführer zum Sonderpreis bekommt und der dafür seinen grünen Liebling favorisieren darf, der wiederum dem Herrn von der Unabhängigen Wählergemeinschaft besonders gute Geschäftskonditionen einräumt. Das ist doch ekelhaft, ist das. Das war mein letzter Vortrag heute.«

»Das ist in Garmisch nicht anders als im Allgäu oder in Nordfriesland«, schnappte ich.

»Besonders klärend wirkt das nicht«, seufzte die Soziologin.

»Ist mir scheißegal«, sagte Rodenstock.

»Hört doch auf«, steuerte ich bei. Es war wirklich nicht unser Tag.

»Ihr seid beide total vernagelt«, klagte die Soziologin. »Zwei Komponenten der Geschichte streichen euch um die Füße wie läufige Katzen, und ihr seht sie einfach nicht. Klar, man kann der Meinung sein, das sei alles eine total provinzielle Arie. Aber zwei Dinge sagen: Nix Provinz! Das eine ist die Art des Mordes, das andere die Tatsache, daß Baumeister von einem Berufskiller getötet werden sollte. Darauf müßten wir uns konzentrieren.«

»Klingt hervorragend nach Spuren von Gehirn«, sagte Rodenstock. »Aber ausgerechnet diese sozusagen internationalen Aspekte haben einen Fehler: Den ersten Mörder können wir nicht fragen, den Killer auch nicht mehr.«

»Ihr seid ekelhafte Machos«, rief sie aufgebracht.

»Sippenhaft«, sagte ich.

»Dann ist da noch eine Komponente, auf die wir uns konzentrieren könnten«, fuhr sie vollkommen unbeeindruckt fort. »Wir wissen ziemlich sicher, daß sich vor drei bis vier Monaten etwas änderte: Kinn und Kutschera brauchten weder die Eifel noch das Projekt in Kyllheim, um glücklich in der Zukunft leben zu können. Wir müssen herausfinden, was das war. Das können wir nur herausfinden, indem wir rekonstruieren, was sie zu diesem Zeitpunkt taten und wen sie trafen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, meinte ich.

»Ich arbeite dran«, sagte sie süßlich. »Ich brauche die Telefonnummern des Kutschera und der Kinn. Hast du die?«

Ich gab ihr die Telefonnummern und zog mich zurück in mein Bett. Paul und Momo hockten einträchtig auf der Fensterbank und sahen in das trübe Wetter hinaus.

Als Dinah mich heftig an der Schulter wachrüttelte, war ich gerade dabei, irgendwo auf den Bahamas die Luxusyacht einer langbeinigen Blonden zu betreten, die ernsthaft der Meinung war, sie könne ohne mich nicht leben.

»Irgend etwas war mit Liechtenstein«, berichtete die Soziologin hell vor Aufregung. »Kutschera sagt, sie waren vor drei Monaten dreimal hintereinander in Liechtenstein. Und zwar innerhalb von neun Tagen. Sie sind jeweils nachts runtergerast und dann 24 Stunden später zurück. Frau Kinn sagt dasselbe.«

»Liechtenstein ist klein, aber verdammt groß, wenn man nicht weiß, wohin sie dort gefahren sind. Gibt es Hinweise?«

»Ja. Frau Kutschera hat eine Art Tagebuch geführt. Da steht in den letzten Junitagen mehrmals die Eintragung Vaduz und Stadtcafe 11 Uhr. Dann einmal Brennerhof 14 Uhr. Das reicht, Baumeister. Laß uns fahren.«

»Wie bitte?«

»Laß uns nach Liechtenstein fahren. Die Eintragungen reichen doch!«

»Haben wir Fotos der Toten?«

»Nein.«

»Dann ruf Wiedemann an und bitte ihn, uns welche zu geben. Ich kann ja begreifen, daß du bei diesem Scheißwetter aus der Eifel rauswillst, aber dann sollten wir wenigstens komplett ausgerüstet sein.«

Sie schrie »Juchhuh!« und ließ sich auf mich fallen, was mich angesichts eines spitzen angewinkelten Ellenbogens um den letzten Rest von Luft brachte. Ich wußte nicht, wie leicht Soziologinnen glücklich zu machen sind.

»Du bist süß!« schrie sie schrill.

»Bitte nicht«, sagte ich und strampelte mich unter ihr hervor. Ich suchte Rodenstock und fand ihn auf dem Bett liegend. Er las Stille und Sturm.

»Wir wollen mal eben nach Liechtenstein«, sagte ich. »Kutschera und Kinn waren dort. Mehrmals. Einwände?«

»Keine, solange du mir Bescheid sagst, was los ist«, antwortete er. »Auf mich alten Knochen kannst du verzichten. Es wird wahrscheinlich eine Gewalttour.«

»Wird es«, nickte ich. »Wir fahren jetzt, und wir fahren durch.«

»Da ist noch etwas«, fuhr er fort, »ich habe noch einmal alle Informationen Revue passieren lassen. Ich denke, Charlie verschweigt uns was.«

»Das denke ich auch. Er ist ein Pirat, aber kein schlechter.«

»Dieser Filz hier macht mir Sorgen. Kennst du die Affäre Stauber? Kennst du nicht? Gut. Also Stauber ist ein kleiner Maschinenbauer Richtung Mosel. Er hat in drei Jahren rund vier Millionen Steuern hinterzogen. Das konnte er auch ruhig tun, weil der Finanzbeamte, der den Betrieb prüfte, nicht nur einen einträglichen Nebenjob als Kneipier hatte, sondern auch noch in seiner Freizeit als Steuerberater für Stauber fungierte. So etwas baut Motive auf, die wir nur schwer entdecken können.«

»Wir hacken meiner Meinung nach viel zu sehr auf reinen Gelddingen herum. Vielleicht liegt das Motiv in ganz anderen Lebensbereichen. Vielleicht war es wirklich eine reine Liebesarie...«

»Baumeister«, sagte er heftig. »Wie soll es sich um eine reine Liebesgeschichte handeln, wenn der Mörder so überlegt und massiv vorging? Und wer, zum Teufel, soll dann der Mörder sein, wenn beide Ehepartner wasserdichte Alibis haben?«

»Auf nach Liechtenstein«, meinte ich.

»Wir können die Fotos von der Polizeiwache in Daun mitnehmen«, gesellte sich Dinah zu uns. »Baumeister, glaubst du, wir werden Glück haben?«

»Wir müssen es versuchen«, sagte ich. »Du fährst bis Koblenz, dann auf die A 61 bis Kreuz Weinheim, dann quer Richtung Nürnberg und hinter Crailsheim auf der Süd-Autobahn an Neu-Ulm vorbei. Wir gehen in Lindau über die Grenze. Und ich werde endlich schlafen.«

»Aye, aye, Sir«, sagte sie. »Ich wollte schon immer mal ein Auto fahren, an dem wirklich alles funktioniert.«

Wir fuhren in die Nacht, nahmen in Daun die Fotos auf und gingen in Mehren auf die Autobahn. Es regnete in Strömen, es machte mich schläfrig. Das Autobahnkreuz Koblenz erlebte ich schon nicht mehr, wurde irgendwo im Hunsrück vorübergehend wach, zerrte einen Pullover aus der Tasche und stopfte ihn mir unter den Kopf. Es regnete noch immer. »Du fährst sehr gut«, nuschelte ich.

»Du merkst doch gar nichts davon«, sagte Dinah fröhlich.

»Ja, eben!«

Als sie tankte, wurde ich erneut wach.

»Ich habe kein Geld«, sagte sie.

»Dann nimm gleich mehr, damit du was in der Tasche hast.«

Es war ihr peinlich, sie druckste herum, sie wollte wütend werden.

»Ich bin nicht schuld an deiner Lage«, sagte ich vorsichtig.

»Ach, Scheiße«, sagte sie und nahm die Scheine. »Du schwimmst ja auch nicht drin.«

»Zu zweit schwimmt es sich auch bei Niedrigwasser besser«, tröstete ich. »Du hast vierhundert Kilometer gemacht, du bist richtig gut.«

Sie stapfte davon, bezahlte und kam zurück. »Ich spendiere dir einen Kaffee von deinem Geld.«

Es war neblig, der Tag war schon gekommen, hatte sich aber noch nicht durchgesetzt. Die Menschen, die in der Raststätte hockten, wirkten muffig.

»Wie lange lebst du schon in der Eifel?« fragte ich.

»Sieben Jahre«, erzählte sie. »Es war ein Versprechen, es war das Versprechen, in einer Gemeinschaft eine andere Sorte Leben aufzubauen. Das ging schief, weil sich die Leute plötzlich daran erinnerten, daß sie nicht anders leben wollten, sondern begüterter. Jetzt prügeln sie sich um die Häuser, in denen das ungemein rührselige weltliche Kloster eingerichtet werden sollte.«

»Du willst wieder fort?«

»Nein, will ich nicht. Ich liebe diese Eifel, ich will mich irgendwie festsetzen und einen Platz finden. Deshalb auch der Versuch, journalistisch zu arbeiten.«

»Und Männer?«

»Ich habe mir meistens welche ausgesucht, die noch ärmer dran waren als ich. Das muß unbewußt passiert sein, aber es passierte. Sie kamen und gingen, und ich trat auf der Stelle. Was ist mit Frauen?«

»Das weiß ich nicht genau. Manchmal denke ich: die ist es! Aber dann kriege ich Schiß und kratze die Kurve. Eigentlich geht es mir gut, eigentlich geht es mir schlecht. Ich bin jetzt seit elf Jahren hier.«

»Dann ist dir der Filz nicht neu.«

»Nein, sicherlich nicht. Filz kann auch rührend sein. Da hat zum Beispiel eine Gemeinde ein Versammlungshaus gebaut. Als es fertig war, stellten sie fest, daß sie die falsche Heizung eingebaut hatten und es nicht möglich war, in dem Saal Handball zu spielen. Sie hatten überhaupt nicht durchdacht, was in dem Ding eigentlich stattfinden sollte. Sie haben es nur haben wollen. Keiner war schuld, und jeder hielt die Schnauze. Solche Beispiele gibt es auch.«

»Gibt es auch Beispiele anderer Art wie Kinn und Kutschera?«

»Na sicher. Haufenweise, aber eben ohne Mord am Schluß. Es gibt viele Männer, die wie Udler dauernd in irgendeinen Puff fahren. Es gibt Paare, die sich offiziell kaum kennen, sich einmal im Jahr auf Sri Lanka treffen oder weiß der Himmel wo. Es ist jedesmal ein Skandal, selbst wenn es nur die Ausmaße einer Seifenblase hat.«

»Aber du magst die Leute, nicht wahr?«

»Ja, ich mag sie, weil ich im Grunde genauso bin. Nichts anderes als ein mieser Bürger, der gern über den Nachbarn schwafelt.«

»Das ist nicht dein Ernst.« Sie lachte.

»Doch, das ist mein Ernst. Dieses Gerede ist nicht nur gefährlich, es ist auch rührend dämlich. Als ich einmal Monate lang nicht im Haus arbeitete, sondern an einem anderen Platz, regte sich mein Vermieter darüber auf, daß ich nicht mehr arbeitete. Ob ich denn die Miete bezahlen könnte? Das sagte er aber nicht mir, sondern in der Kneipe. So ist das, und daran wird sich nichts ändern. Bist du noch nie das Opfer von Gerüchten gewesen?«

Sie lachte. »Na sicher. Die Leute sagen von uns, wir seien Kommunisten und rote Socken. Dabei sind wir genau die gleichen Spießer wie sie selbst, nur eben wortreicher und manchmal ein bißchen verlogener. Bei uns leben Sozialhilfeempfänger, die sich ein Haus bauen, und das macht die Leute mißtrauisch.«

»Wie soll das bei dir weitergehen?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Irgend etwas Altes hört auf, irgend etwas Neues fängt an.« Sie errötete leicht. »Ich denke, vielleicht fängt für mich etwas mit dir an.«

»Wieso mit mir?« fragte ich. Wahrscheinlich ahnte ich, daß sie ein Sturkopf war, und wahrscheinlich fürchtete ich ihren gemeingefährlichen Hang zu direkten Bemerkungen. Ich erwischte mich, wie ich nachdenklich das Salzfäßchen in meinen Kaffee leerte.

»Das weißt du doch«, entgegnete sie leichthin. »Ich habe mich in dich verliebt. Das ist so, und du kannst es nicht umdrehen.«

Ich hörte Elvis Presley I am crying in the Chapel heulen und wußte wirklich nichts zu sagen. »Aha«, sagte ich. Und dann: »Ich muß nachdenken, wie ich dazu stehe.«

»Mußt du nicht«, lächelte sie, und sie hatte so eine widerliche Art, mir direkt in die Augen zu schauen und dabei nicht einmal zu blinzeln. »Nichts ist für die Ewigkeit, Baumeister. Und wahrscheinlich ist es ausreichend, ein- oder zweimal mit dir ins Heu zu steigen. Ich habe meine Lektionen alle gelernt.«

»Moment mal«, widersprach ich empört. »Wer redet von Heu? Ich will gefragt sein.«

»Ich habe dich gefragt«, sagte sie und rief: »Zahlen, bitte!«

Ich kam mir ziemlich ekelhaft vor, und ein wenig fühlte ich mich wie ihr Dackel.

Die nächste Strecke fuhr ich, und ich war bemüht, das Thema nicht weiter auszubreiten. Ich berichtete also von ein paar wundersamen journalistischen Heldentaten, die ich vollbracht hatte, bis sie mich leise lachend unterbrach: »Also, ich wollte dich wirklich nicht in die Enge treiben.«

»Du treibst mich nicht in die Enge«, sagte ich. »Ich will Zeit haben, verstehst du? Ich glaube nicht, daß ich gut bin im Heu, wenn es nur das Heu ist, sonst nichts.«

»Aber riskieren willst du nichts«, erwiderte sie schnell. »So ist das doch immer. Die Leute verkriechen sich unter der Bettdecke, spielen an sich selbst herum. Wenn sie echt gefordert werden, wollen sie wieder schnell unter ihre Decke.«

»Siehst du das nicht sehr einfach?« fragte ich.

»Mag sein«, sagte sie langsam. »Aber so ist es nun mal.«

Danach kam glücklicherweise eine längere Pause, der Tag wurde heller, der Nebel verzog sich, im Süden tauchten ein paar blaue Himmelsflecken das Land in helleres Licht. Wir kamen schnell voran, ich schob ein Band mit Clapton-Songs ein, stöpselte den Elektrorasierer in den Feueranzünder und machte mich landfein.

»Wie gehen wir vor?« erkundigte sich meine Soziologin.

»Das werden wir an Ort und Stelle entscheiden. Wir haben nur das Stadtcafe und diesen Berghof. Also ran und warten, was passiert.«

Wir riefen Rodenstock aus Lindau an, und er berichtete uns, es habe sich absolut nichts getan. »Wir hocken hier erstarrt«, sagte er.

Wir gingen über die Grenze nach Österreich, dann in die Schweiz. Ab Feldkirch fuhr ich sehr schnell, als mache uns das erfolgreicher. Wir erreichten die flache Schüssel, in der Vaduz liegt, und Dinah rief: »Wir kommen! Nehmt euch in acht!«

Die Zeit der Touristen war vergangen, ihre neue Zeit noch nicht gekommen, das Leben in den Straßen floß träge. Das Stadtcafe war leicht zu finden, wir marschierten hinein und bestellten etwas.

»Wir müssen einen immerwährenden halbamtlichen Charakter vermitteln«, sagte ich leise. »Das macht Eindruck, das führt am schnellsten zum Ziel. Freundlich, aber knallhart.«

Die Bedienung war eine abgearbeitete ungeschminkte Frau um die Dreißig. Ich legte ihr die Fotos von Pierre und Heidelinde vor und fragte: »Wir wissen, daß diese beiden Leute hier vor etwa drei Monaten häufig in diesem Cafe waren. Wir müßten wissen, mit wem sie sich trafen, da beide bei einem Unfall ums Leben kamen. Verstehen Sie?«

»Oh ja«, strahlte sie. »An die beiden erinnere ich mich gut. Die waren so verliebt. Frisch verheiratet, wie? Sie sind verunfallt? Oh nein, wie schrecklich. Die trafen Herrn Dr. Danzer. Das ist ein Anwalt, ein bekannter Anwalt unten aus der Au.«

»Ach, ja. Wir danken Ihnen. Vertritt Dr. Danzer deutsche Firmen?«

Die Kellnerin lachte. »Das weiß man nicht, welche Nationalität diese Firmen haben. Wie schrecklich, daß die tot sind. Ja, ja, der Verkehr.«

Wir zahlten. Draußen sagte Dinah: »Das kommt mir alles viel zu einfach vor.«

»Um herauszufinden, ob es das ist, müssen wir zu diesem Danzer«, entgegnete ich.

»Wie ist das mit dem Bankgeheimnis in der Schweiz und Liechtenstein?«

»Nicht mehr so rigide wie noch vor ein paar Jahren, aber immer noch kannst du hier in Liechtenstein oder in der Schweiz Bargeld en masse loswerden, und niemand kann feststellen, wo es steckt. Zunächst wird ein Anwalt mit der Gründung einer Firma beauftragt, dann fließt das Geld in diese Firma. Praktisch ist es damit verschwunden. Zwischen dir und deinem Geld steht dann immer der Anwalt, der keine Auskunft zu geben braucht und den kein Mensch dazu zwingen kann, Auskunft zu geben. Es sei denn, jemand kann beweisen, daß es Geld aus kriminellen Handlungen ist. Aber dieser Beweis gelingt so gut wie nie.«

»Scheiß Kapitalismus«, sagte Dinah gereizt.

Es war ein merkwürdiges Haus, und es hatte vermutlich einmal als kleines Bauernhaus angefangen. Stück um Stück hatte man Stahlbetonwürfel hinzugefügt, zwischen denen das alte brave Häuschen zerdrückt zu werden schien. Es gab zwei Schilder. Auf einem stand: Dr. Antonio Danzer. Auf dem anderen standen die klein geprägten Namen von bestimmt mehr als hundert Firmen. Die Wortteile ›Finanz‹ und ›Trade‹ kamen in fast allen Namen vor.

»Wir sehen vermutlich nicht aus wie Klienten von Dr. Danzer«, sagte ich.

»Wir werden auch nie welche«, antwortete Dinah und schellte.

Eine Frauenstimme kam aus dem Lautsprecher: »Ja, bitte?«

»Wir ermitteln in Sachen Pierre Kinn«, sagte ich. »Wir müssen Herrn Dr. Danzer sprechen.«

»Einen Augenblick«, sagte die Frau ohne Betonung. Dann kam ihre Stimme wieder. »Er hat Zeit für Sie. Bitte die Treppe hinauf und erste Tür rechts.«

Der Summer tönte, ansonsten war das Haus entsetzlich still.

»Wir sind in den Hallen der Großfinanz«, flüsterte ich.

Im Treppenhaus lag auf jeder Stufe ein anderer kleiner Teppich, die Bilder an den Wänden waren wohl Originale. Wir klopften und traten ein.

Der Mann hinter dem Schreibtisch sah nicht so aus, als könne er Antonio Danzer heißen, aber er war es.

Er lächelte sehr zurückhaltend – er war der Typ des vierzigjährigen alerten Managers, der gelegentlich der Frau eines Kollegen zuflüstert, er sei mit allen menschlichen Schweinereien dieser Welt bereits konfrontiert worden und wundere sich über nichts mehr. Er trug ein erlesenes Grau über einem blauen Oberhemd mit weißem schmalen Kragen und schwarzer Krawatte mit weißen Elefanten drauf. Damit macht man darauf aufmerksam, daß man den World Wilde Life Fund unterstützt und jüngst mit Prinz Phillipp gefrühstückt hat, als es darum ging, die bengalischen Tiger zu retten. Danzer hatte ein schmales, energisches Gesicht mit zuviel Bräune aus dem Topf, und seine Gesten waren energisch und sparsam.

»Nehmen Sie Platz. Ich habe wenig Zeit. Ich kann Ihnen wahrlich keine Auskunft über irgendeinen Klienten geben. Das ist mir untersagt. Wenn es aber um Herrn Kinn und Frau Kutschera geht, mache ich bis zu einer gewissen Grenze eine Ausnahme.«

»Das ist sehr schön«, erwiderte ich.

Wir setzten uns auf die beiden Stühle, die in Front vor seinem Schreibtisch aufgebaut waren, und ich fragte mich, über wieviel Geld insgesamt in diesem Raum schon verhandelt worden war. Eine völlig idiotische Phantasterei.

»Wissen Sie vom Tod der beiden?«

»Ja, aus der Zeitung selbstverständlich«, nickte er. »Ich habe täglich zwei englische, zwei deutsche, zwei Schweizer und zwei internationale Blätter. Das muß man in meiner Position. Und Ihr Wunsch, bitte?«

»Wir sind in einer Klemme«, sagte Dinah. »Wir ermitteln wegen des Doppelmordes. Da uns einige wichtige Einzelheiten aus dem Leben der beiden Toten nicht bekannt sind, müssen wir Sie befragen. Hatte Pierre Kinn eine Firma bei Ihnen?«

»Nein«, antwortete Danzer. »Um Gottes willen, nein. Ich kenne Herrn Kinn zufällig aus einem gemeinsamen Urlaub. Ich konnte ihm ein paarmal Tips geben. Deshalb trafen wir uns. Das war alles.«

»Hatte Kinn denn vor, zusammen mit Frau Kutschera eine Firma zu betreiben?« fragte ich.

»Davon ist mir nichts bekannt«, lächelte er. »Darüber haben wir nie gesprochen. Wie kommen Sie überhaupt auf mich?«

»Ganz einfach«, sagte Dinah. »Ihr Name stand im Notizbuch von Frau Kutschera.«

»Ach so«, hüstelte er, und es war eindeutig: Wäre Heidelinde Kutschera nicht schon vorher getötet worden, hätte er sie jetzt liebend gern umgebracht. Gute Leute machen niemals Notizen.

»Was ist mit dem Berghof?« fragte ich.

»Das ist ein Tagungshaus von mir«, erklärte er. »Nur ein paar Schritte von hier entfernt. Ich lade Management-Leute zu Seminaren ein. International, wissen Sie?«

»Also, Kinn hatte keine Firma bei Ihnen?«

»Richtig«, nickte er. »Keine Firma bei mir.«

»Es gab auch keine Absprachen, gelegentlich mit Bargeld hier aufzutauchen?« fragte ich. Ich mochte ihn nicht.

Er schloß gelangweilt die Augen, und keiner seiner edlen Züge glitt aus. »Ich bin kein Mensch für das Bare«, sagte er angewidert. »Ordentliche Firmensitze mit ordentlichen Verträgen.«

»Entschuldigung«, meinte ich. »Pierre hatte es mit Geldtransporten. Sagen Sie, kennen Sie einen gewissen Hans-Jakob Udler?«

»Nein. Wer, bitte, soll das sein?«

»Nicht der Rede wert«, sagte Dinah. »Können Sie uns denn aufklären, was Kinn und Kutschera beruflich vorhatten?«

»Nicht im geringsten«, antwortete er und lachte so, als käme ihm die Frage gänzlich naiv vor. »Sehen Sie, verehrte gnädige Frau, ich kannte die beiden nur flüchtig.«

»Das habe ich schon verstanden«, sagte ich. »Aber Sie müssen doch irgendein Thema bei Ihren Gesprächen gehabt haben.«

»Sicher hatten wir das«, bestätigte er.

Schweigen.

»Das war es dann wohl«, durchbrach ich die Stille. »Wir bedanken uns.«

»Es tut mir sehr leid«, meinte er und stand auf. Er war ein großer Mann.

»Mein Gott, ist das ein Arsch!« sagte Dinah verbittert im Wagen. »Und jetzt?«

»Jetzt suchen wir erst mal für die nächsten Stunden eine Bleibe«, schlug ich vor. »Irgendwie sind wir hier noch nicht am Ende.«

Wir fuhren nur fünfhundert Meter. Da stand ein Schild Gasthof und Hotel, und darunter Dr. Danzer.

»Es bleibt in der Familie«, murmelte meine Soziologin.

Sie hatten ein Doppelzimmer frei. Auf zwei Einzelzimmer mochte ich nicht bestehen, weil das kleinkariert gewirkt hätte und weil wir schließlich eine Menge miteinander zu besprechen hatten.

Sie zerrte sich den Pullover über den Kopf, ließ die Jeans fallen und klagte: »Ich bin völlig erledigt.« Dann sank sie auf das Bett.

Sicherheitshalber nahm ich eines der beiden zierlichen Sesselchen. Ich langte nach dem Telefon und rief mich selbst an.

»Bitte?« fragte Rodenstock.

»Hör zu, Papa, es sieht nach einem Fehlschlag aus. Der Verbindungsmann heißt Dr. Danzer in Vaduz. Er traf die beiden ein paar Mal, aber es ging, wie er sagte, immer nur um Tips. Eine Firma haben sie hier nicht, und sie hatten angeblich auch nicht vor, eine zu gründen.«

»Glaubst du das?«

»Nicht die Spur«, sagte ich. »Aber wir können niemanden zwingen, Auskünfte zu geben. Der Name Udler sagte ihm auch nichts. Er hat über den Doppelmord in der Zeitung gelesen, behauptet er. Er liest viele Zeitungen.«

»Dann schlaft euch aus und kommt heim.«

»Hm«, murmelte ich und hängte ein. »Nichts Neues. Wir sollen einfach wieder nach Hause kommen.«

»Erst schlafen«, sagte sie und öffnete nicht einmal die Augen.

Eine Weile blieb ich noch in dem Sessel hocken, dann zog ich mir die Schuhe aus und legte mich neben Dinah auf das Bett. Ich war hundemüde, und es war mir plötzlich gleichgültig, ob sie mich überfallen würde oder nicht. Sie schlief, ihr Atem ging ganz ruhig.

Als ich wieder aufwachte, waren vier Stunden vergangen, und Dinah fuhrwerkte im Bad herum, sang einen Gassenhauer schräg und falsch und sehr laut.

Es war später Nachmittag, die Dunkelheit kroch heran, und ich fühlte mich ausgesprochen gut.

Dann stand Dinah nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, in der Badezimmertür und sagte: »Es ist toll, du solltest in die Wanne steigen. Man kann alle miesen Menschen, die man getroffen hat, von der Haut waschen. Ich habe übrigens keine Jeans mehr, keinen Pullover, keine Unterwäsche. Ich bin nicht darauf eingerichtet, in Hotels zu übernachten.«

»Wir könnten etwas einkaufen gehen«, antwortete ich. »Irgendein Geschäft wird noch geöffnet sein.«

»Du sollst es mir nur pumpen«, sagte sie ernsthaft.

»Natürlich, nur pumpen«, bestätigte ich ebenso ernsthaft.

Also fuhren wir ins Zentrum von Vaduz und suchten nach einem Geschäft, dessen Preise in etwa unseren Gewohnheiten entsprachen. Es dauerte ziemlich lange, bis wir eines fanden. Dinah suchte Jeans aus, einen Pullover, eine Garnitur Wäsche, und ich bestand darauf, daß sie alles gleich zweimal kaufte. »Wir können das nächste Hotel nicht ausschließen«, sagte ich.

Sie schrieb sich gewissenhaft auf einen Zettel, was das alles kostete, und sie sagte: »Kann ich es in zwei Raten zahlen?«

Ich wurde sauer. »Es ist eine Art Betriebskleidung. Stell dich nicht so an!«

Sie sah mich an, sagte aber nichts und bemühte sich um Fassung. »Ich will noch einmal diese dicken knallroten T-Shirts sehen«, sagte sie dann mit einer ganz hohen Stimme.

»Tut mir leid«, haspelte ich. »Es ist gepumpt«, nickte ich, »natürlich, wie du willst.« Ich kam nicht zurecht mit mir selbst. »Du solltest vielleicht... Ich bin mal eben verschwunden.«

Ich ging hinaus, fand mich ekelhaft und sah keinen Ausweg. Schließlich trottete ich zwei Häuser weiter in eine Drogerie und kaufte Roma von Laura Biagiotti, gleich einen halben Liter, damit es richtig wehtat.

Dann wartete ich, bis Dinah aus dem Laden hinauskam und gab ihr die Schachtel. »Es tut mir leid, ich bin ein Arsch.«

»Einsicht«, sagte sie aufreizend langsam, »ist das erste Loch im Wasserkopf.«

Wir fuhren in das kleine Hotel zurück, und Dinah lächelte mich zaghaft an. »Wir sind schon ganz schön kaputt«, stellte sie fest.

»Du hast recht«, sagte ich. »Riechst du gern Parfüm?«

»Ja, aber nur wenn keine Grünenfrau dabei ist, die empört sein kann.«

Wir aßen in der Bauernstube für sündhaft teures Geld Lachs an Spinat, und sie mummelte: »Ich kaue gerade auf zwanzig Franken fünfzig rum. Und es tut mir nicht mal leid. Und anschließend will ich einen Caramel-Pudding in Courvoisier und abschließend irgendeine Käseschweinerei.«

»Genehmigt«, sagte ich. »Und ich werde mir eine Zigarre bestellen, die soviel kostet wie ein Schnitzel in der Eifel. So ist das nun mal, wenn Bauern reisen.«

»Du bist ein Verrückter«, meinte sie liebevoll. »Und ich würde dich gern fragen, ob du bezahlen kannst, aufstehen und mit mir ins Bett gehst. Diesmal will ich eine klare Antwort.«

»Das geht«, nickte ich. »Ich muß mich nicht einmal überreden.«

Sie griff über den Tisch und nahm meine Hand, und ich ließ es gut sein, wenngleich ich mich umsah, als könnte man uns bei einer unsittlichen Handlung beobachten. Die Eifel ist die Heimat eines Rudels Pharisäer, und ich schien mich ihnen angeschlossen zu haben.

Ich bezahlte, ließ mir eine Rechnung geben, und wir standen auf, gingen sprachlos und seltsam befangen die Treppe hinauf.

Im Zimmer drehte sich Dinah herum und murmelte: »Du kannst die Augen geschlossen halten. Ich möchte dich ausziehen.«

Es wurde eine konzertierte Aktion, wobei wir uns gewaltig gegenseitig in die Quere kamen und dann dazu entschließen mußten, uns jeweils selbst auszuziehen.

»Sag bloß nichts«, murmelte sie. »Komm einfach langsam in mich rein und sag mir, daß du mich magst.«

»Ich mag dich«, sagte ich.

Später lagen wir im dunklen Zimmer, starrten an die Decke und hielten uns an der Hand.

»Ich denke immer, ich möchte irgendwo zu Hause sein und rücksichtslos leben können. Und natürlich will ich geheiratet werden, und natürlich denke ich auch an ein Kind. Und all das kann ich mir doch nicht ständig verkneifen.«

»Das mußt du doch nicht«, sagte ich. »Manchmal habe ich den Gedanken, es könnte sich lohnen, die Tiere in der Eifel einem kleinen Mädchen oder einem kleinen Jungen zu erklären. Wie müßte denn ein Mädchen heißen?«

»Sophie«, antwortete sie. »Für einen Jungen habe ich noch keinen Namen.«

»Dann laß uns Sophie erarbeiten«, sagte ich.

Irgendwann schliefen wir ein, und meine letzte Wahrnehmung war ihr ruhiger Atem in meinem Gesicht.

Es war eine unglaublich grelle Detonation, wenngleich kein Licht aufblitzte. Es war ein scharfer, heller Knall. Ich kam hoch, war sehr verschreckt, ich spürte, wie mein Herz raste. Ich spürte, wie Dinah neben mir hochschoß und ins Dunkel starrte. Sie wollte irgend etwas sagen, aber etwas verschloß ihr den Mund.

Der erste Schlag traf mich seitlich am Kopf, der zweite irgendwo in der Gegend des Halsansatzes. Ich schlug auf den Boden, wollte »Dinah« sagen, aber ich konnte nicht sprechen. Dann sah ich gegen das Fenster einen drohenden Schatten, der sich schnell bewegte. Etwas Hartes traf mich peitschend an der Brust und preßte alle Luft aus mir heraus.

Dinah schrie grell und langgezogen, und jemand stoppte diesen Schrei. Ich hörte, wie sie fiel und dumpf seufzte. Ich versuchte, auf die Knie zu kommen, aber das gelang nicht, und das Letzte, was ich dachte, ehe jemand mich erneut traf, war: Mein Gott, warum waren wir so naiv?